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mit freundlicher Genehmigung der beiden Autoren und der FamRZ , die Zeitschrift für das
gesamte Familienrecht, die die Abhandlung im Heft Nr. 15 vom 1. August
2006, Seite 1079 - 1083, erstveröffentlicht hat:
Unterbringung
und Zwangsbehandlung
Eine
Nachfrage bei den Vormundschaftsgerichten
von Prof. Dr.
Wolf Dieter Narr,
und Wiss. Mitarbeiter Thomas Saschenbrecker, Berlin
Es mag auf den ersten Blick eine innere Logik haben, dass
ein Betreuter, der zu Behandlungszwecken gemäß S1 1906 I Nr. 2 BGB
geschlossen untergebracht wird, dort auch gegen seinen Willen behandelt
werden darf. Im Zuge der Rechtsprechung des BGH1
sind insbesondere in Entscheidungen des OLG Celle2 jedoch Zweifel darüber aufgekommen, § 1906 1
Nr. 2 BGB als Rechtsgrundlage für eine Zwangsbehandlung anzunehmen.
Nicht hinreichend beachtet wurden in der bisherigen Praxis - so
jedenfalls die Ansicht des OLG Celle und der ihr folgenden
Literaturmeinungen3 - die Grundrechte eines
Betroffenen auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 II S. 1 GG.
Dieser Sachverhalt war für das Institut für Grundrechte und öffentliche
Sicherheit an der Freien Universität Berlin Anlass, bei den
Vormundschaftsgerichten in einer Totalerhebung nachzufragen, wie es um
die Wahrung der Grundrechte bei der Zwangsbehandlung eines Betreuten
stehe. An der Umfrage haben 388 Vormundschaftsgerichte von
angeschriebenen 694, also mehr als 50 von Hundert teilgenommen.
1. Der Beschluss des OLG Celle
Der Beschluss des OLG Celle v. 10.8.20054, setzt sich mit der Frage der Zulässigkeit der
Zwangsbehandlung eines Betreuten während einer betreuungsrechtlichen
Unterbringung nach § 1906 II BGB zum Zwecke der Heilbehandlung
auseinander:
Diesem Beschluss des OLG Celle liegt die
Einwilligung des Betreuers in die zwangsweise medikamentöse Behandlung
eines Betreuten mit einem Neuroleptikum zugrunde. Auf entsprechenden
Antrag hin hatte das Amtsgericht nach vorausgegangener Anhörung des zu
diesem Zeitpunkt bereits in geschlossener stationärer Behandlung
befindlichen Betreuten die medikamentöse Behandlung mit Neuroleptika
gegen dessen Widerstand genehmigt.
Aus ärztlicher Sicht sei der Patient, so die
Ausgangsentscheidung in ihren Gründen, als dringend
behandlungsbedürftig anzusehen. Eine Entlassung sei nicht vertretbar,
da damit gerechnet werden müsse, dass sich der aus ärztlicher Sicht
behandlungsbedürftige Betreute selbst gefährde und sich sein
Gesundheitszustand verschlechtere.
Die sofortige Beschwerde des Betroffenen gegen die
Entscheidung des Amtsgerichts hat das Landgericht zurückgewiesen. Zur
Begründung hat das Landgericht angeführt, dass die medikamentöse
Behandlung des Betreuten unumgänglich und eine Besserung des
Krankheitsbildes nur bei Behandlung mit Neuroleptika denkbar sei. Ohne
diese Behandlung sei keine Besserung seines schweren Krankheitsbildes
möglich. Diese müsse darum auch gegen seinen Willen vorgenommen werden.
Gegen diese Entscheidung hat der von Zwangsmedikation
Betroffene erneut sofortige Beschwerde eingelegt. Der 17.
Zivilsenat des OLG Celle hat sie für begründet erachtet. Er
hat die angefochtene Entscheidung des Landgerichts zunächst aufgehoben
und das Verfahren auch aus anderen Gründen an das Landgericht
zurückverwiesen.
Entgegen den den Beschlüssen stillschweigend zugrunde
liegenden Auffassungen des Amtsgerichts und Landgerichts sei - so das OLG
Celle in seiner Entscheidung - eine Zwangsbehandlung auf
betreuungsrechtlicher Grundlage rechtlich nicht zulässig und daher
nicht genehmigungsfähig.
Der 17. Zivilsenat des OLG Celle vertritt in seiner
Entscheidung im Anschluss an die Rechtsprechung des OLG Thüringen5 die Auffassung, auch die stationäre
Zwangsbehandlung sei auf der Grundlage des Betreuungsrechts als
rechtlich nicht zulässig anzusehen6. Eine
ausreichende Rechtsgrundlage fehle. Das OLG Celle lehnt sich
hierbei an die Entscheidung des BGH zur ambulanten
Zwangsbehandlung 7 an.
Die in der Rechtsprechung geäußerte Gegenmeinung8 unterstellt die betreuungsrechtliche
Zwangsmedikation grundsätzlich als zulässig. Sie sieht die Regelungen
des § 1906 I Nr. 2
bzw. des § 1906 IV BGB als ausreichende Rechtsgrundlage an. Als
ausfüllendes Kriterium für die Zulässigkeit der Zwangsbehandlung reiche
deren Verhältnismäßigkeit angesichts der ansonsten drohenden
gewichtigen Gesundheitsschäden aus. Dabei wird teilweise die
Überprüfung der Verhältnismäßigkeit auf die Fälle lebensnotwendiger
Behandlungen beschränkt.
Diese Gegenmeinungen verwirft das OLG Celle als unzutreffend.
Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BGH9 und des BVerfG10
vertritt der Senat den Standpunkt, jede Zwangshandlung gegen den
Widerstand des Betreuten bedürfe einer ausdrücklichen Rechtsgrundlage
durch ein formelles Gesetz. Soweit dieses formelle Gesetz teilweise in
der Regelung des § 1906 I Nr. 2 bzw. § 1906 IV BGB gesehen werde,
überzeuge diese Auffassung nicht. Der sprachlich eindeutige
Gesetzestext enthalte nur die Befugnis zur Unterbringung bzw. zu
unterbringungsähnlichen Maßnahmen, nicht jedoch die Befugnis zur -
gemessen an der Eingriffsintensität - deutlich schwerwiegenderen
Zwangsbehandlung.
Damit thematisiert eine höchstrichterliche Entscheidung die
Frage der Zulässigkeit einer medikamentösen Zwangsbehandlung eines
Betreuten unter dem Aspekt des Eingriffs in die körperliche
Unversehrtheit Art. 2 II S. 1 GG. Wegen des Gesetzesvorbehaltes darf in
Grundrechte grundsätzlich nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes
eingegriffen werden, Art. 2 II S. 2 GG. Bei einer Zwangsbehandlung wird
in das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 II S. 1
GG eines Betreuten eingegriffen, bei einer Unterbringung in das
Grundrecht der Freiheit der Person nach Art. 2 II S. 2 GG.
Eine Rechtsgrundlage für einen Eingriff in das Grundrecht der
körperlichen Unversehrtheit ist im Betreuungsrecht aber gerade nicht
ersichtlich11.
Der sprachlich eindeutige Gesetzestext des § 1906 BGB enthalte, so das OLG
Celle, nur die Befugnis zur Unterbringung bzw.
unterbringungsähnlichen Maßnahmen, nicht jedoch die Befugnis zur
deutlich schwerwiegenderen Zwangsbehandlung.
Zwar könne der Wortlaut des § 1906 1 Nr. 2 BGB nahe legen,
dass derjenige, der zu Behandlungszwecken geschlossen untergebracht
sei, dort auch gegen seinen Willen behandelt werden dürfe. Der
Gesetzgeber des Betreuungsgesetzes sei dieser Annahme jedoch
ausdrücklich nicht gefolgt und habe von der gesetzlichen Regelung der
Zwangsbehandlung ausdrücklich abgesehen12.
Dementsprechend habe der Gesetzgeber auch die Zwangsbefugnisse für den
Betreuer geregelt. In § 70g V FGG habe er die Befugnis zur
Gewaltanwendung nur vorgesehen, um den Betreuten eventuell zwangsweise
unterzubringen, nicht jedoch, ihn auch zwangsweise zu behandeln.
Vor diesem Hintergrund sei die Regelung des § 1906 BGB nicht
als hinreichende formelle Rechtsgrundlage für eine Zwangsbehandlung
anzusehen. Eine andere Rechtsgrundlage für die Zwangsbehandlung nach
den Landesgesetzen sei nicht ersichtlich. Aus diesem Grund sei die
Rechtswidrigkeit der Zwangsbehandlung des Betroffenen festzustellen.
2. Die Fragestellung an die
Vormundschaftsgerichte
In der Praxis der Rechtsprechung der Vormundschaftsgerichte
wie auch bei der Anwendung von Zwang bei der medikamentösen Behandlung
Betreuter mit Neuroleptika im Rahmen einer Unterbringung nach § 1906
BGB in einer psychiatrischen Anstalt nahm man bisher überwiegend an,
die Zwangsbehandlung während einer stationären Unterbringung auf einer
geschlossenen Abteilung durch den Betreuer sei nach § 1906 I BGB
zulässig. Sie werde durch die Entscheidung des
BGH zur ambulanten Zwangsbehandlung13 nicht berührt.
Im Anschluss an die bisherige Rechtsprechung, der sich in
neueren Entscheidungen auch der 9. Zivilsenat des OLG
Thüringen in Abkehr von früheren Entscheidungen des in 2002
befassten 6. Zivilsenates wieder angeschlossen hat14, leitete man aus den Regelungen des § 1906 I
Nr. 2 bzw. des § 1906 IV BGB eine ausreichende Rechtsgrundlage nicht
nur für die freiheitsentziehenden Maßnahmen, sondern auch für die
Zwangsbehandlung eines Betreuten mit Neuroleptika ab. Kriterium für die
Zulässigkeit der Zwangsbehandlung sei deren Verhältnismäßigkeit
angesichts ansonsten drohender gewichtiger Gesundheitsschäden.
Vor diesem Hintergrund wurde allen deutschen
Vormundschaftsgerichten der zu Beginn der Erhebung unveröffentlichte
Beschluss des OLG Celle15 verbunden
mit den Fragen zugesandt, ob dieser Beschluss des OLG Celle v.
10.8.2005 auf künftige Entscheidungen in der jeweiligen
vormundschaftsgerichtlichen Praxis Einfluss haben werde, und inwieweit
man die Entscheidung als bindend für die Rechtsprechungspraxis der
jeweils befragten Vormundschaftsgerichte ansehe.
Im Einzelnen wurden sämtliche 694 deutsche
Vormundschaftsgerichte gebeten, prognostisch für ihre künftigen
Entscheidungen unter folgenden Optionen auszuwählen:
- "Wir werden uns der Meinung des OLG in künftigen Entscheidungen nicht
anschließen"
- "Wir werden den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit künftig einer noch
strengeren Tatsachenprüfung unterwerfen und nur noch in streng
auszulegenden Ausnahmefällen, wie akute Lebensgefahr, einer
psychiatrischen Zwangsbehandlung zustimmen"
- "Wir sehen wie das OLG Celle keine gesetzliche Grundlage für
Zwangsbehandlung aus dem geltenden Betreuungsrecht."
Die Gerichte wurden außerdem gebeten, gegebenenfalls ihre jeweilige
Einschätzung zu kommentieren.
Insgesamt haben von 694 angefragten Gerichten 388, mithin 56
% die Anfrage des Institutes für Grundrechte und öffentliche Sicherheit
an der FU Berlin beantwortet. Unter den 388 Antworten waren 66
Antworten ohne eindeutige Zuordnung zu den Fragen. Teilweise wurde
dieses Versäumnis mit differierenden Rechtsansichten der einzelnen mit
vormundschaftsgerichtlichen Angelegenheiten befassten Richter eines
Gerichtes begründet Teilweise verwiesen die 66 nicht eindeutigen
Antworten der Amtsgerichte auf Erlasse der Ministerien, die die
Teilnahme an Forschungsprojekten und damit an der Befragung von einer
ministeriellen Zustimmung abhängig machten. In mehreren
Antwortschreiben wurde eine Teilnahme aus Zeitgründen abgelehnt. Eine
größere Anzahl der Vormundschaftsgerichte, die ohne eindeutige
Zuordnung antworteten, wollte keine schematisierte Antwort geben und
verwies auf die Notwendigkeit einer Einzelfallprüfung. Dabei sollte
teilweise der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zum Tragen kommen. Einzelne
Antwortschreiben enthielten auch den Hinweis, man habe derartige Fälle
in der Praxis noch nicht entschieden.
Im Ergebnis schlossen sich 98,716 der
befragten Gerichte, also 25,5 %, vorbehaltlos dem Urteil des OLG
Celle an: Die vormundschaftsgerichtliche Genehmigung einer
Behandlung gegen den Willen eines Betreuten sei abzulehnen.
144,6 der befragten Gerichte, mithin 37 % lehnten die
Beschlussfassung des OLG Celle zur Unzulässigkeit der
Zwangsbehandlung ab und sahen in Einklang mit der Rechtsprechung des OLG
München und des OLG Schleswig17
in den Regelungen des § 1906 1 Nr. 2 bzw. des § 1906 IV BGB eine
hinreichende Rechtsgrundlage. In der Hauptsache wurden
Praktikabilitätserwägungen geäußert. In der Praxis sei eine
Unterbringung nach § 1906 I Nr. 2 BGB nicht durchführbar und
sinnentleert, enthielte die Rechtsnorm nicht zugleich eine
Ermächtigungsgrundlage zur Behandlung gegen den Willen. Eine
Unterbringungsgenehmigung zum Zwecke der Heilbehandlung - so die hier
vielfach geäußerte Meinung - liefe ansonsten auf eine bloße Verwahrung
hinaus.
Eine andere Sicht der Dinge allerdings - so die Meinung der
ablehnenden Gerichte - sei gleichwohl zu vertreten18,
falls eine Patientenverfügung vorliege und der erklärte Wille des
Betroffenen einer Zwangsbehandlung mit Neuroleptika entgegenstehe. Das
war der Sachverhalt im vom OLG Celle entschiedenen Fall,
wenngleich der Senat in seinen Entscheidungsgründen obiter dictum
keinen Zweifel daran beließ, dass er in der geltenden gesetzlichen
Regelung keine Rechtsgrundlage für eine Zwangsbehandlung sehe.
79,5 der befragten Gerichte, also 20,5 %, wollten den
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stärker als bisher in die jeweilige
Meinungsfindung einfließen lassen, ob Zwangsbehandlung im Einzelfall
zulässig sei oder nicht. Hier wurde eine Entscheidung zur Zulässigkeit
einer Zwangsbehandlung verstärkt von der jeweiligen
Einwilligungsfähigkeit, partiell aber auch vom Vorhandensein eines
natürlichen Willens abhängig gemacht.
In den geäußerten Meinungen der befragten Gerichte ist indes
durchweg der Wunsch nach Rechtsklarheit zu erkennen, vornehmlich durch
eine Entscheidung des BGH aber auch durch gesetzgeberisches
Handeln.
Lediglich insgesamt drei der befragten Gerichte nahmen
explizit zur Frage eines Grundrechtseingriffes in die körperliche
Unversehrtheit Stellung und lehnten bereits aufgrund bisheriger
ständiger Rechtsprechung eine Zwangsmedikation ab.
3. Die Praxis der Rechtsprechung der
Vormundschaftsgerichte
Die Befragung der Gerichte zur Anwendung der Grundrechte im
Rahmen einer stationären Behandlung zeigt erhebliche Differenzen,
teilweise selbst innerhalb des Fachbereiches der einzelnen Gerichte
auf, wenn es um die Frage der Zulässigkeit der Zwangsbehandlung bei
einem Betreuten geht.
Auf die grundrechtsrelevante und vom OLG Celle
thematisierte Frage, dass eine hinreichende Rechtsgrundlage für die
Anwendung von Zwang gegen den körperlichen Widerstand des Betroffenen
bei der Medikation mit Neuroleptika und den damit verbundenen
erheblichen Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit
nicht gegeben sei, gehen die Antworten in der überwiegenden Mehrzahl
nicht ein.
Häufig äußern die Fachgerichte in diesem Zusammenhang, dass
sich jedwede schematische Lösung in Unterbringungssachen verbiete und
der Einzelfall zu prüfen sei, obgleich für Einzelfallentscheidungen und
Prüfung derselben kein Raum sein kann, wenn und soweit grundrechtliche
Fragen hinsichtlich der Eingriffsnorm hinreichend geklärt wären. Dies
aber ist, zumindest unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des OLG
Celle, nicht der Fall.
Vielfach dürfte das Grundrechtsverständnis der Amtsgerichte
bezüglich künftiger Entscheidungen zur Genehmigung einer medikamentösen
Zwangsbehandlung primär durch Praktikabilitätserwägungen geprägt sein.
Die einschlägige Ansicht verweist darauf, man lasse ansonsten der
Unterbringung zum Zwecke der Heilbehandlung einen Verwahrcharakter
zukommen und entleere die Norm des § 1906 I Nr. 2 BGB ihres Sinnes.
In diesem Zusammenhang ist auch der Verweis einzelner
Gerichte vorzufinden, dass man "bislang immer selbstverständlich
vorausgesetzt" habe, "eine Unterbringung von Betroffenen" gestatte auch
die Zwangsmedikation der untergebrachten Personen durch die in der
Psychiatrie behandelnden ärzte. Diesem Selbstverständnis gemäß habe man
in der bisherigen Praxis auch keine Anträge auf Genehmigung einer
Behandlung gegen den Willen eines Betroffenen bearbeitet, sondern im
Zuge einer Unterbringung nach 5 1906 1 Nr. 2 BGB eine Zwangsbehandlung
mehr oder minder geduldet.
Die Fachgerichte bewerten die Frage der Zulässigkeit einer
Zwangsbehandlung in der vormundschaftsgerichtlichen Praxis äußerst
unterschiedlich. Je nach zuständigem Vormundschaftsgericht, teilweise
auch je nach Zuständigkeit des befassten Vormundschaftsrichters im
Rahmen des Geschäftsverteilungsplanes des Gerichtes wird eine
Zwangsbehandlung eines Betreuten zulässig erachtet oder mangels
Rechtsgrundlage abgelehnt. So entscheidet letztlich der Zufall des
Gerichtsorts, ob und inwieweit der jeweils Betroffene einer solchen
Maßnahme gegen seinen Widerstand in einer psychiatrischen Anstalt mit
Neuroleptika behandelt wird oder nicht.
Gleichwohl hat eine größere Anzahl der befragten Gerichte die
Anfrage dahingehend beantwortet, die Rechtsprechung des OLG Celle
in eigenen künftigen Entscheidungen zu berücksichtigen und die
Behandlung eines Betreuten gegen seinen Willen mit Neuroleptika künftig
mangels Rechtsgrundlage nicht zu genehmigen. Lediglich drei der
gefragten Gerichte gaben allerdings an, dies sei auch bisherige
Rechtsprechung des befragten Fachgerichtes gewesen.
4. Kommentar zum Beschluss des BGH v.
1.2.2006
Nach Abschluss der Umfrage hat der BGH einen Beschluss gefasst
und sich zu den Fragen in einem obiter dictum geäußert19 Der BGH unterstreicht dabei die hohe
normative Bedeutung von Art. 2 II GG. Und doch unterläuft er den
starken Schutz der Integrität des Menschen. Er behauptet, das Recht des
Betreuers den von ihm Betreuten notfalls entgegen dessen geäußertem
Willen zwangsweise unterzubringen, impliziere konsequenterweise, dass
der Betreuende zusätzlich erneut gegen den Willen des Betreuten in
diverse Formen der von ärzten oder medizinischem Personal ausgeübten
Zwangsbehandlung einzuwilligen vermöge. Dies sei rechtens. Diese
Annahme ist mehrfach rechtsfehlerhaft. Sie arbeitet zum einen mit der
Annahme einer implikativ gegebenen Ermächtigung. Diese ist aber
rechtlich formell und grundrechtlich substantiell unzulässig. Sie
verkennt zum zweiten die fundamentale Bedeutung von Art. 2 II GG
insbesondere i. V mit Art. 1 I S. 1 GG und mit Art. 19 und 20 I S. 1 GG
und Art. 104 1 GG. Art. 2 II GG kann als dauernd gültige, personal
bezogene norma normans von einer norma normata nur in
genau festgelegten Ausnahmen zeitlich und sachlich punktuell
durchbrochen werden. Das heißt zugleich, dass der Gesetzesvorbehalt,
durch einfache Gesetze zu verrechtlichen, nicht nur substantiell im
Sinne der Wesensgehaltsklausel begrenzt auszuführen, sondern auch
prozedural-formell festzulegen ist.
a) Weil die Integrität der Person als unmittelbar
geltendes Menschenrecht höchsten Verfassungsrang besitzt, darf in diese
Integrität äußerstenfalls nur eingegriffen werden, wenn rechtlich
genau, notfalls durch abschließende Kasuistik explizit statuiert wird,
wann, warum, wie und von wem mit welchen Mitteln ausnahmsweise die
Integrität einer Person vorübergehend und im Einzelfall verletzt werden
darf. Mit anderen Worten: An einzelgesetzlich ausgeführte Vorbehalte
entgegen der kategorischen Geltung des Grundrechts auf die Integrität
jedes Einzelnen sind die äußersten Anforderungen an Präzision und der
durchgehenden, vorab geltenden Berechenbarkeit zu stellen. Die
Allgemeinheit des Gesetzes ist in diesem Falle nur zulässig, wenn keine
Person vorab diskriminiert wird. Die Allgemeinheit des Gesetzes ist
grundrechtswidrig, wenn im vorstehenden Fall eine betreuende Person,
ein Arzt, eine Person des Pflegepersonals einer Krankenanstalt, die
erwiesene Willensunfähigkeit bzw. seinen nachgewiesenen
selbstzerstörerischen akuten Zustand vorausgesetzt, entscheiden kann,
ob eine Zwangshandlung vorgenommen werden muss und wie sie erfolgen
darf. Dass der BGH sogar so weit geht, medikamentöses
Experimentieren zu erwägen und zuzulassen, zeigt wie sehr sich das hohe
Gericht auf die Gleitfläche des Zwangs und medizinisch professioneller
Stellvertretung in Bezug auf die Gesundheit des Betreuten eingelassen
hat. Als könnten sich - Professionalisierung und Fürsorge hin oder her
- irgendeine Institution und deren kompetente Vertreter die Kompetenz
anmaßen, die Gesundheit eines anderen Menschen in ihrer umfassenden
Integrität körperlich und psychisch-geistig zu repräsentieren, sprich:
zu vergegenwärtigen. Kurzum: wenn der Gesetzgeber wollte, dass an einem
betreuten Menschen, der infolge der Entscheidung des Betreuenden
zwangsweise in eine Anstalt eingewiesen worden ist, sei es ambulant,
oder gelte die Verweildauer längere Zeit, medizinisch professionell
ausgeübte Zwangseingriffe in seine Integrität vorgenommen werden
dürfen, dann müsste er dies nicht nur zum einen explizit beschließen.
Der Gesetzgeber müsste zum anderen das Gesetz und die Handhabung des
Gesetzes distincte et clare festlegen. Unbestimmte
Rechtsbegriffe, vage Vermutung von Kompetenzen in Richtung Medizin und
ähnliches mehr sind hier nicht zulässig. Sonst handelte es sich von
vornherein um ein gesetzeswidriges Gesetz.
b) Immanent im Duktus des BGH-Beschlusses
verbleibend wurde unterstellt (s. o. a), unter Umständen sei nach
entsprechend deutlichem und klarem Gesetz - das also die
Rechtssicherheit des Grundrechtsträgers der Person entgegen allen
präventiven Verwässerungen radikal ernst nimmt20
- ein hochgradig voraussetzungsvoller Zwangseingriff in die Integrität
von Menschen möglich, wenn zugleich vorausgesetzt wird, eine andauernd
kontrollierte, prinzipiell öffentlich einsehbare, institutionell
ausgewiesene und detailliert geregelte Prozedur sei gewährleistet.
Diese Unterstellung widerspricht dem Grund- und Menschenrecht
auf eine rundum geltende Integrität des Menschen und den damit
notwendig verbundenen grund- und menschenrechtlichen Konnexnormen. Wie
dies für die meisten anderen Grund- und Menschenrechte gleichfalls mutatis
mutandis zutrifft, können Grund- und Menschenrechte im Unterschied
zur klassischen Tradition ihrer ersten Formulierung Ende des 18.
Jahrhunderts nicht nur als "individuelle Abwehrrechte" verstanden
werden. Ein solches Verständnis - genetisch aus der frühliberalen,
anti-absolutistischen Genese erklärbar - setzt nicht nur die
sozioökonomischen und psychologisch-politischen Bedingungen voraus, die
es erst ermöglichen, dass Menschen ihrer Grund- und Menschenrechte
bewusst werden und über die Mittel verfügen, sie wahrzunehmen21. Kurz, der menschenrechtliche Normgeber und
die einer menschenrechtlich fundierten Verfassung folgenden Gewalten
sind gehalten, für die gesellschaftlichen Voraussetzungen
menschenrechtlicher Praxis zu sorgen, damit Menschen die ihnen qua
ihrer Menscheneigenart zugesprochenen, vielmehr die aus ihrem
Menschsein erwachsenen Rechte wahrnehmen.
Darüber hinaus lässt eine abwehrrechtlich restringierte
Auffassung nicht begreifen, dass Grund- und Menschenrechte als
Aktivrechte jeder Person auszulegen sind. Darum ist die Koppula
zwischen Menschenrechten und Demokratie keine, die mehr oder minder
willkürlich zwei einander zufällig begegnende Phänomene aneinander
anhängt. Keines der zentralen Menschenrechte ist von vornherein für
alle Zeiten, Länder und Personen übergreifend, also für alle
geschichtlich in spezifischen Kontexten lebende Menschen, denen sie
gelten, eindeutig und klar gegeben. So zentral der Anspruch der
Menschenrechte ist, universell für alle Menschen aller Zeiten und aller
Orte zu gelten, so sehr entsprechen die Menschenrechte erst dann ihrem
individuell, auf jede Person geeichten Sinn, wenn der Kontext beachtet
wird und Menschenrechte kontextgemäß vermittelt werden, in denen
konkrete Menschen verletzlich leben. Das aber heißt über den
allgemeinen politischen Auftrag hinaus, die jeweils möglichen und
nötigen sozialen Bedingungen zu schaffen, das, was die Menschenrechte
auf Integrität, Würde und Freiheit jeweils spezifisch bedeuten, kann
nur die einzelne Person in ihrem unverwechselbaren Kontext und ihrem
unverwechselbaren So-geworden-Sein bewusst entscheiden. Sie kann ihre
Würde nur dadurch je und je neu erwerbend besitzen, dass sie erstlich
und letztlich exklusiv darüber selbst entscheidet, ob und inwieweit sie
ihre Integrität zu riskieren bereit ist, ob und inwieweit sie, in ihre
Integrität eingreifen lassen will, um eine je und je personal
angestrebte restitutio in integrum zu erreichen.
Fast etwas nonchalant stellt der BGH fest, in der
Krankenbehandlung und im Heilungsprozess werde die Integrität des
Menschen ohnehin medizinisch kompetent zur Disposition gestellt.
Zutreffend ist daran allein, dass in der Tat jeder Mensch, der in Nach-
oder in Vorsorge um gesundheitlichen Rat nachsucht, der sich in die
Obhut eines Arztes, eines Krankenhauses u. A. m. begibt, damit seine
Bereitschaft erklärt, in seine Integrität eingreifen zu lassen. Dass
die Nachsuche nach Hilfe jedoch den personalen Menschenrechten und der
frei selbstbestimmten und darum seine Würde ausdrückenden Integrität
des Hilfe erpichten Menschen entspricht, sind drei Erfordernisse
unabdingbar:
Zum ersten entscheidet der Rat und Hilfe suchende Mensch, ob,
wo und welche Hilfe er bei wem sucht.
Zum zweiten: Der betreffende Mensch, der insoweit zum
Patienten wird, entscheidet durchgehend letztlich selbst aufgrund etwa
ärztlicher Ratschläge, in welcher Form und in welcher Tiefe er in seine
Integrität eingreifen lassen will. Alle behandelnden Institutionen und
ihre Helfer sind gehalten, das Ausmaß, die Art und die möglichen
Effekte des Eingriffs vorab in verständlicher Form, in schweren
Eingriffsfällen im Beisein von Angehörigen und/oder ansonsten vom
Bürgerpatienten gewählten Vertrauten zu erläutern. Pauschale und/oder
schwer verständliche Formblätter reichen dazu nicht aus.
Zum dritten: Die helfenden Institutionen und ihre kompetenten
Angehörigen sind auf ein Verfahren zu verpflichten, das den
Hippokratischen Eid der heutigen Fülle der kaum noch materiell
fassbaren Eingriffe gemäß ausdifferenziert. Zugleich bedarf es bei
gewichtigen Eingriffsfällen der innermedizinischen Zusatzkontrolle. Nur
ein (kleines) Kollektiv kann die Entscheidung fällen, die letztlich
Vorschlagscharakter behält und prinzipiell vom Patienten gebilligt
werden muss.
Die hier vorgetragene Auffassung des Grund- und
Menschenrechts der Integrität oder der Unversehrtheit des Menschen
erhellt aus drei menschenrechtlich essentiellen Gründen.
Zum ersten: Dem schlechterdings zentralen Rang des
Menschenrechts auf Integrität. Dieses ist so eng mit dem Menschenrecht
auf Freiheit und dem auf Würde verbunden, dass sich diese
menschenrechtliche Königinnentriade nur vereint und in der dauernden
Wechselgeltung verwirklichen lässt.
Zum zweiten: Alle Menschenrechte sind nicht wie ein "rocher
de bronze" fest, eindeutig und dauerhaft gegeben. Menschen sind
verletzliche Wesen. Sonst bedürfte es der Normen nicht. Menschenrechte
sind dazuhin hochgradig voraussetzungsreiche und je und je prekäre
Notwendigkeiten des Menschen. Darum müssen sie immer erneut ausgelegt
und spezifisch bestimmt werden. Menschenrechte als wesentliche
Erfordernisse/Bedürfnisse jedes Menschen, um seinen Möglichkeiten gemäß
leben zu können, sind letztlich nur von dem Menschen konkret zu
bestimmen, der seine eigene Unversehrtheit frei und um seiner Würde
willen bestimmt und gegebenenfalls gezielt ein stückweit preisgibt.
Die Universalität der Menschenrechte ereignet sich so jeweils
historisch konkret im selbstbestimmten Tun und Lassen der einzelnen
Person. Sie wird dadurch erst zur ganzen Person. All diese nötigen
prinzipiellen Feststellungen zur Eigenart der Menschenrechte, hier des
Rechts auf Integrität, besagen, dass es nicht angeht, Menschen gegen
ihren Willen zwangsweise zu behandeln. Sollte nachweislich Gefahr im
Verzug sein, dass Menschen aktuell akut andere Menschen physisch
gefährden, also die Integrität anderer massiv zu verletzen drohen, kann
es angemessen sein, solche Menschen so lange wie unbedingt erforderlich
auf die sie schonendste Weise von anders gerichteten Gewaltakten
abzuhalten. Es geht jedoch nicht an, gegen den Willen auch des noch so
mit Gewalt gegen andere drohenden Menschen in dessen Integrität
medikamentös oder mit anderen Mitteln mit nie restlos absehbaren Folgen
einzugreifen. Auch der Gesetzgeber, handelt er den normae normandes
der Grund- und Menschenrechte entsprechend, darf kein Gesetz
beschließen, das die Integrität durch Eingriffe in Körper, Geist und
Seele des Menschen mehr als im Sinne äußerlicher Blockade zu versehren
droht.
c) Nach den vorgetragenen Argumenten muss der Schluss
mutmaßlich nicht mehr genauer erläutert und aus den Grund- und
Menschenrechten begründet werden: Eine pragmatische Lösung im üblich
legeren Sprachgebrauch des Adjektivs "pragmatisch" ist dort nicht
möglich, wo die Geltung der Grund- und Menschenrechte in Frage stehen.
Und dies in ihrer Spitzennorm, der norma normans, die alle
anderen fundiert und durchdringt: der habeas corpus-Akte, dem
Menschen- und eben nur sekundär staatlich gegebenen Grundrecht auf
Integrität oder mit dem schönen deutschen Wort: der Unversehrtheit. Für
dieses Menschenrecht gilt durchgehend und bis ins Detail die Vermutung.
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1. BGH, FamRZ 2001,
149 ü: = NJW 2000, 888.
2. OLG Celle, FamRZ 2006, 443 (m. Anm.
Brakebusch) = R&P 2005, 196 H (m. Anm. Marschner) = BtPrax 2005,
235; OLG Celle, Beschluss v. 21.12.2005 - 17 W 132/05,
Vorlagebeschluss zu BGH, FamRZ 2006, 615 (vgl. hierzu unten 4.)
3. Anm. Marschher [Fn. 2], m. w. N.
4. OLG Celle, FamRZ. 2006, 443 = R&P
2005, 196 = BtPrax 2005, 235.
5. OLG Thüringen, R&P 2003, 29, anders
aber OLG Thüringen, Beschlüsse v. 30.11.2005 - 9 W 627/05 u. 9
W 659/05 -, FamRZ 2006, 576: "Die Genehmigung einer zwangsweisen
Heilbehandlung des Betroffenen scheitert nicht am Fehlen einer
gesetzlichen Grundlage".
6. Marschner, Zwangsbehandlung in der ambulanten und
stationären Psychiatrie, R&P 2005, 47 ff.
7. BGH, FamRZ 2001, 149.
8. OLG Schleswig, FamRZ 2002, 984; OLG
München, FamRZ 2005, 1196 = OLGR 2005,394
9. BGH, FamRZ 2001, 149, 152.
10. Vgl. BVerfG, FamRZ 1998, 895 = NJW 1998,
1774.
11. Marschner, Zwangsbehandlung in der ambulanten
und stationären Psychiatrie, R&P 2005, 47 ff.
12. BT -Drucks. 11/4528, S. 72.
13. BGH, FamRZ 2001, 149 ff= NJW 2000, 888.
14. OLG Thüringen, FamRZ 2006, 576; vgl. Fn.
5.
15. OLG Celle,
FamRZ 2006, 443 = R&P 2005, 196 H: = BtPrax 2005, 235.
16. Soweit von einzelnen Gerichten mehrere
verschiedene Antworten aufgrund der unter den mit Vormundschaftssachen
befassten Richtern unterschiedlich geäußerten Rechtsansichten
eingingen, wurden diese Antworten nach der Zahl der jeweils
zustimmenden bzw. ablehnenden Richtern gequotelt und als eine Antwort
berücksichtigt.
17. OLG Schleswig, FamRZ 2002, 984; OLG
München, FamRZ 2005, 1196 = OLGR 2005, 394.
18. OLG Celle, FamRZ 2006, 443 = R&P
2005, 196 ff. = BtPrax 2005, 235.
19. BGH, Beschluss v. 1.2.2006 - XII ZB
236/05 -, FamRZ 2006, 615, m. Anm. Muscheler, S. 690; das OLG Celle
hatte dem BGH die Sache vorgelegt (Beschluss v. 21.12.2005 - 17
W 132/05) vgl. Fn. 2.
20. Siehe dazu Luhmann, Das System des Rechts, 1994.
21. So sind schon die modifizierten Fassungen der
Menschenrechte der Menschenrechtserklärung der UN von 1948, ihre
Ergänzung durch die Sozialcharta 1966 und ihre ergänzende Kritik durch
afrikanische und lateinamerikanische Staaten zu verstehen; vgl. auch
die einschlägigen Diskussionen anlässlich der letzten weltweiten
Menschenrechtskonferenz zu Wien von 1993.
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