Neues Deutschland - Donnerstag, 15. Mai 2008

Fällt die Zwangspsychiatrie?
UN-Behindertenrechtskonvention gegen psychiatrische Sondergesetze / René Talbot ist Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Psychatrie-Erfahrener

ND: Zusammen mit Vertretern der Berliner Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen haben Sie heute Abend unter dem Motto »Fällt die Zwangstherapie? Zur Unvereinbarkeit der UN-Behindertenrechtskonvention mit den psychiatrischen Sondergesetzen« zur Diskussion ins Berliner Abgeordnetenhaus geladen. Welcher konkrete Anlass bringt dieses Thema auf die politische Tagesordnung und in die Öffentlichkeit?
Talbot: Die geplante Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) durch die Bundesregierung, voraussichtlich zu Beginn von 2009. Vor diesem Schritt müssten die Gesetzgeber anerkennen, dass die psychiatrische Zwangsbehandlung in Deutschland infolge der BRK abgeschafft gehört. Das wollen wir in einer Kampagne erreichen. Unsere Forderung werden wir heute im Gespräch mit dem Grünen-Abgeordneten Dirk Behrendt und anderen beleuchten.

Welche Argumente führen Sie für eine Abschaffung von Zwangsmaßnahmen ins Feld?
Mit der BRK von 2007 wurde eine wesentliche Änderung festgeschrieben: Behinderung gilt nicht mehr als Mangel, als »Defizit«, sondern als eine Eigenschaft innerhalb der Vielfalt der menschlichen Familie. Somit wird auch in Artikel 12 der UN-Konvention die selbstbestimmte Handlungsfähigkeit des Menschen zugestanden. In deutschen Psychiatriegesetzen sind jedoch bis heute Zwangsmaßnahmen gesetzlich erlaubt. Das ist unvereinbar mit der neuen Konvention und müsste von den Gesetzgebern ausdrücklich klargestellt werden.

Welche Zwangsmaßnahmen können bislang angewendet werden?
Dazu zählt die Entmündigung von für »psychisch krank« erklärten Personen laut Betreuungsgesetz im BGB, und insbesondere folterartige Behandlungen gegen den Willen der Betroffenen innerhalb der geschlossenen Psychiatrie, wie Drogenspritzen oder sogar Elektroschocks zur Erpressung von Krankheitseinsicht.
Wir fordern besonders, die Psychisch-Kranken-Gesetze (PsychKG) der Bundesländer abzuschaffen, die solches ermöglichen. Doch auch eine Reform des Betreuungsgesetzes und der Forensik muss kommen.

Welche Maßnahmen haben Sie mit Ihrer Kampagne bislang ergriffen?
Um unsere Schlussfolgerung aus der UN-Konvention für die Psychiatriegesetze zu überprüfen, haben wir ein Rechtsgutachten in die Wege geleitet. Im Gutachten, das jetzt vorliegt, bescheinigten uns die Anwälte Wolfgang Kaleck, Sebastian Scharmer und Sönke Hilbrans, was wir vermuteten: Zwangsbehandlungen gemäß PsychKG sind sofort illegal, wird die Konvention einmal ratifiziert. Die Politik ist nun gefordert. Sie muss die Gesetze zur Zwangspsychiatrie jetzt kippen. Das Gutachten haben wir allen Bundestagsabgeordneten und allen Landtagsabgeordneten mitgeteilt.

Wie verhielten sich die Angesprochenen zu Ihrem Anliegen?
Bis jetzt konnten wir nur aus der Grünen-Fraktion Unterstützung gewinnen. Bleibt zu hoffen, dass einige Abgeordnete auf unsere Einladung zum heutigen Abend reagieren. Sehr wünschen wir uns die Linkspartei als Verbündete, die noch zurückhaltend blieb. In Berlin hat sie das Gesundheitsressort politisch inne – und damit die Möglichkeit, bis zum kommenden Jahr das Berliner Gesetz zu entkernen.

Fragen: Birgit v. Criegern

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