In
den letzten Jahren ist mehr als zuvor Zwang in einer prinzipiell
als Heilberuf verstandenen praktischen Wissenschaft von Grund
auf fragwürdig geworden. Selbst die totalitäre Funktionalisierung
psychiatrischen Zwangs mit massenmörderischen Folgen durch die
nationalsozialistisch deutsche Herrschaft, die der Sowjetunion
und nur sublimer zwangshafte Praktiken auch in nominell demokratischen,
grund- und menschenrechtlich ausgeflaggten Ländern, hatte nicht
zur Folge, Zwang in diversen Formen endgültig jeden Teppich
rechtlicher, psychiatrisch professioneller und bürgerlicher
Legitimation zu entziehen. Von Jahrzehnten, ja Jahrhunderten
der Kritik angewandten Zwangs an psychiatrisierten und/oder
psychisch behinderten Menschen zu schweigen, kann aktuell dahingestellt
bleiben, welche Gründe dafür anzugeben sind, dass vielerorts
und durch eine Reihe von einschlägigen Äußerungen begriffen
worden zu sein scheint: Mit einer Als Ob psychiatrischen Anamnese
und pseudo-therapeutischen Erfordernissen als notwendig behaupteter
Zwang schlägt nicht nur den einzelnen Opfern, den angeblichen
Klienten (Schutzbefohlenen), direkt ins Gesicht. Er stellt vielmehr
Gesellschaften, ihre Politik, ihre Demokratie und ihr Recht
von ihrer Wertebasis aus in Frage. Soweit diese grund-, menschenrechtlich
und demokratisch gegründet und durchdrungen sind. Nur einige
dieser psychiatrischen Zwang wenn nicht aufhebenden, so doch
bis an eine umstrittene Grenze einschränkenden Verlautbarungen
präskriptiver, nicht allein symbolischer Art seien genannt:
Die von den Vereinten Nationen 2007 verabschiedete, in der Bundesrepublik
2009 Gesetzeskraft erlangt habende Behindertenrechtskonvention.
Die Ergänzung des BGB 2009 durch den noch nicht folgerichtig
in den folgenden Paragraphen eingebetteten § 1901 a und Folgende.
Er statuiert das präventive, dann je und je aktuell geltende
Patientenverfügungsrecht im Falle krankheits- und behinderungsbedingt
beschränkter expressiver Entscheidungsfähigkeit von Jederfrau
und Jedermann. Hinzukommen höchstrichterliche Bundesverfassungsgerichts-
und Bundesgerichtshofentscheidungen. Sie untersagen psychiatrischen
Zwang grundrechtlich. Vom bleibenden, hochgradig voraussetzungsreichen
Zwangsrest wird unten noch die Rede sein. Dieser Rest, ist -
verfassungsrichterlich immanent gesprochen - nicht folgerichtig.
Er scheint am Rand als hindernisreiche ultima ratio.
Gegen
diese Zwangswälle, die äußerstenfalls auf schmalen, hindernisreichen
und rechtlich hoch riskanten Zwangsklettertouren ausnahmsweise
überwunden werden könnten, haben sich eine Reihe von Gruppen
und Institutionen formiert. Sie sind zwangsinteressiert. Naheliegender,
wenn auch die eigenen Heilaufgaben verratender Weise, gehört
zu ihnen der größte bundesdeutsche psychiatrische Interessenverband,
die Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und
Nervenheilkunde e.V. (DGPPN). Mit ihr bereiten einige Länder,
ihre Landesregierungen und Regierungsfraktionen neue Gesetze
vor. Sie sollen gesetzesförmig erlauben, psychisch Behinderte
zwangsweise unterzubringen und psychiatrisch für notwendig erachtenden
Falls zwangszubehandeln. Infolge der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
sind alle sog. PsychKGe der Länder hinfällig geworden. Sie kreisten
herkömmlich um den Zwangskern. An erster Stelle haben sich das
Land Baden-Württemberg und seine von den Grünen und der SPD
gebildete Regierung auf den Weg gemacht. Im Rahmen höchstrichterlicher
Rechtsprechung und ihrer fast nicht verrückbaren Pflöcke gehen
sie darauf aus, das grund- und menschenrechtlich Unmögliche
trotzdem möglich zu machen. Gehwege der Zwangsbehandlung sollen
geradezu zwangshaft, sie zu verrechtlichen, gehauen werden.
Jüngst hat sich das Präsidium des Deutschen Richterbundes mit
einer an sich selbst klaren und eindeutigen Forderung der geschrumpften
Phalanx der Zwangsverteidiger angeschlossen. "Das Präsidium
des Deutschen Richterbundes", so heißt es im "DRB-Newsletter"
11/2012 vom 27.8.2012, "hat sich dafür ausgesprochen, eine klare gesetzliche Grundlage für die
medikamentöse Zwangsbehandlung von betreuten psychisch Kranken
zu schaffen. Mit Schreiben an das Bundesjustizministerium und
die Länderressorts, an den Rechtsausschuss des Bundestages sowie
die Fachpolitiker der Koalitionsfraktionen will der DRB auf
den dringenden Handlungsbedarf aus Sicht des Verbandes hinweisen
und möglichst ein Gesetzgebungsverfahren anstoßen."
In
den folgenden beiden Absätzen des Newsletter begründet das Präsidium
des DRB seine Initiative. "Der
Bundesgerichtshof hatte unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung
entschieden, dass unter Betreuung stehende Personen nicht mehr
gegen ihren Willen behandelt werden dürfen.
Die Folgen einer unterbleibenden Behandlung könnten für den Einzelnen
aber schwerwiegend sein, argumentiert das DRB-Präsidium. Je
länger eine Psychose unbehandelt bleibe, desto größer werde
die Wahrscheinlichkeit, dass sie chronisch verlaufe und dem
Betroffenen ein normales Leben unmöglich werde. Die Auswirkungen
des Urteils - insbesondere auf die Psychiatrie - seien nicht
zu unterschätzen. Um auszuschließen, dass in vielen Fällen eine
erfolgversprechende Therapie zu spät kommt, fordert der DRB
eine gesetzliche Grundlage für die Vornahme dringend notwendiger
Eingriffe."
Sein
Votum autoritativ verstärkend fügt das Präsidium des DRB im
folgenden Absatz hinzu: "Auch
der baden-württembergische Justizminister Rainer Stickelberger
(SPD) und Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU) haben den
Bundesgesetzgeber aufgefordert, schnellstmöglich eine gesetzliche
Grundlage für medikamentöse Zwangsbehandlung von betreuten psychisch
kranken Menschen zu schaffen."
Das
ist die aktuelle Situation. Darum melden wir uns erneut zu Wort.
Da wir anderen Orts ausführlicher argumentiert und belegt haben,
warum das Präsidium des DRB und Andere mehrfach irren, indem
sie, paradox, eine gesetzliche Befreiung zum professionellen
Zwang fordern, nehmen wir nur in thesenförmig verkürzter Form
pointiert Stellung. Die Pointen können jederzeit ausgeführt,
mit Belegen versehen und in den praktischen Folgen zugespitzt
werden.
I. Warum ist medikamentöse
Zwangsbehandlung grund- und menschenrechtlich auszuschließen?
Drei
miteinander verhakte Gründe bewirken diese Exklusion:
Zum ersten: Die Menschlichkeit des Menschen wird durch seine selbstbestimmte
körperliche und psychische Integrität bewirkt, deutsch Unversehrtheit.
Zwang, die Verneinung des Selbst eines Menschen und seiner eigenen
Entscheidung darüber, verletzt sie. Wird Zwang von anderen Menschen
welcher Absichten auch immer ausgeübt, hebt er die Menschlichkeit
des Menschen auf. Und sei es dem Scheine nach vorübergehend
und teilweise. Eine Wiederherstellung, eine Heilung ohne bleibende
Folgen ist ausgeschlossen. Andere Menschen ersetzen die eigene
Menschlichkeit. Sie machen sie fremd.
Zum zweiten: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." So der 1. Satz
des ersten Artikels des Grundgesetzes. Soll dieses, das Grundgesetz
überragende Postulat nicht als ein leeres Tabu abstrakt bleiben,
sprich abgehoben von der Wirklichkeit des Alltags und seinen
Nöten, ist ein Doppeltes geboten. Die menschliche Würde ist
unter beschränkter Varianz bei ihrer Verwendung kriterienklar
zu fassen. Die Kriterien bewähren sich zugleich in der Prozedur,
sie anzuwenden. Sie erwachsen aus dem zuerst genannten Grund.
Zwang und Würde verhalten sich konträr. (1). Soll das Adjektiv
"unantastbar" nicht nur einer homerisch schmückenden, nicht
weiter erheblichen Qualität gleichen, dann darf sie nicht okkasionell
dezisionistisch, sprich je nach Umständen verwässert werden
(2). Geschähe das, würde das handlungsleitende Tabu: Die Würde
des Menschen ist unantastbar, zum grundgesetzlichen Poussiertuch.
Zum dritten: Grund- und Menschenrechtliche Normen verstehen sich nicht
von selbst, gerade weil sie menschlich wesentlich sind. Sonst
müssten sie nicht eigens wie dauernde Ausrufezeichen des Verhaltens
statuiert werden und, goetheisch, als geprägte Formen lebend
entwickelt werden. Sonst könnten sie nicht abgründig verkehrt
werden. Die deutsche Geschichte von 1933 bis 1945, und nicht
nur sie, bleibt ein dauerndes Menetekel. Menschenrechtliche
Normen erhalten erst dann ihren irdisch menschlichen Sinn, werden
sie auch und gerade in schwierigen Zusammenhängen, im Verfahren,
mit Problemen umzugehen, strikt eingehalten. Sonst verkämen
sie kasuistisch.
II. Gibt es einen psychiatrisch
rechtlich begründbaren Zwang mit der Folge, dass Menschen wieder
frei oder, wie sich der DRB ausdrückt, wieder "normal" werden?
Historisch
sind immer wieder bedeutende Leute und Institutionen aufgetreten,
die Zwang gerechtfertigt haben, Menschen frei zu machen. Der
große J. J. Rousseau gehörte dazu. Im hier thematisierten Zusammenhang
reicht es, nur auf einige Widersprüche und Fehlannahmen hinzuweisen.
Systematisch zusammengefasst besagen sie: Es käme einer indezenten,
hybriden Fach- und fachvertreterlichen Selbstüberschätzung gleich
zu behaupten, die Psychiatrie und i h r Recht, nota bene nicht
Grund- und Menschenrechte, setzten fachkühn und heilsam über
die Kluft zwischen bürgerlich selbstbestimmten Freiheitsrechten
und angeblich gut begründbarem Zwang. Einige Indizien mögen
die fachliche, juristische wie psychiatrische, nota bene auch
pekuniäre, Täuschung verraten.
1. Der Deutsche Richterbund wie auch andere Zwangsvertreter verschweigen,
nicht anders als gutwillig, jedoch fahrlässig zu bezeichnen,
dass "medikamentöse Zwangsbehandlung" auf einen Zwangsakt beschränkt
sei. Sie bedeutete jedoch eine Zwangsfolge. Zwangsunterbringung,
zwanghaftes Festhalten oder Festbinden, je nach Überzeugung
des Psychiaters und/oder der psychiatrischen Anstalt eine Serie
der Zwangsbehandlungen ungewissen Ausgangs und nicht genau begrenzten
Ausmaßes an Zwang, Zwangsmitteln, Zwangsgriffen und Zwangseingriffen.
2. Die präsidialen Richter verhalten sich ebenso stumm darüber, wie
die gegebenenfalls gesetzlich zum Zwang ermächtigten Psychiater
und ihre zwangsweise wirksamen Anstalten, über die ängstigenden
Wirkungen des Zwangs. Solche ängstigenden Wirkungen gehen weit
über die unmittelbar Gezwungenen hinaus. Sie reichen - lange
ängstigend, Aggressionen u. ä. m. erweckend - vor alle Zwangsbehandlungen.
Sie wirken lebenslang nach. Sie machten in ängstigenden Wirkungen
lange nach Zwangseingriffen zu schaffen, selbst wenn die angeblich
psychisch und psychiatrisch bewirkte "Normalität" im Sinne der
Unauffälligkeit - oder erzeugter Apathie und Aphasie - zeitweise
oder andauernd erreicht sein sollte.
3. Wie ahnungslos dürfen Richter sein, gerade wenn sie präsidial
erhoben sind, anzunehmen, das, was eine Psychose auszeichne
(oder Ähnliches ?!), sei eindeutig zu identifizieren und
sei ebenso eindeutig in seinen Ursachen oder auch nur seinen
Symptomen zu orten. Diese werden hier hypothetisch als gefährlich
unterstellt - potentiellen Richterinnen und Richtern, Psychiaterinnen
und Psychiatern zu weit entgegengehend. Wie ahnungslos dürfen
Richter sein, es gäbe in der Regel d i e Ursachen oder
d i e gefährlichen Symptome genau treffenden Mittel und
die Psychiater kennen sie punkt-, sprich medikament- und wirkungsgenau.
Als gäbe es ein psychiatrisch umfassendes und zugleich
gewisses Wissen um die Wirkung der Therapeutika. Entsprechend
könnten diese Mittel mit glattem Erfolg ohne Seiteneffekte
ein- und ebenso der unliebsamen Konsequenzen frei folgenlos
abgesetzt werden, hätten sie ihre psychische Behinderung
aufhebende Wirkung getan. Geradezu im Sinne eines linear kausalen
Effekts. Bekanntlich jedoch sind die psychiatrisch diagnostizierbaren,
ursächlich eindeutig verortbaren und, in einem weiteren
Sprung, medikamentös ohne Kollateralschäden von allen
kundigen Psychiatern behebbaren psychischen Behinderungen weithin
einem mühsamen, irrtümerreichen Suchbild vergleichbar.
Daher liegen fachliche und außerfachliche Projektionen
so nahe. Diese mehrdeutigen Unschärferelationen kumulieren
am und im psychiatrischen "Objekt"(!), dem Patienten,
bewirkt durch das allein gebliebene, rechtlich zwangsmächtige
Subjekt, den Psychiater. Sie verschlingen sich vielmehr derart,
dass eines in jedem Fall ausgeschlossen werden muss: Zwang,
der auf Wissen basiert. Eine solche Zwangsbehandlung, die die
Grund- und Menschenrechte vorübergehend zuhängte,
erlaubte dann rechtsfrei ausnahmsweise das "gute"
Zwangsgewissen. Nein! Eine Zwangsermächtigung schadete
nicht nur der Psychiatrie und ihren professionellen Adepten.
Sie kehrte vielmehr den kategorischen Imperativ zuungunsten
der Opfer und Objekte, der Patienten und zugunsten der Psychiatrie
um. Diese entschiede, gesetzlich lizensiert, quasigöttlich,
was den ihrer Menschenrechte beraubten psychisch Behinderten
aufgezwungen werden dürfte und könnte. Menschliche
Hybris, der Kern griechischer Tragödien und ihrer Reinigungswirkung,
wird in Zeiten technologischer Innovationen und ihres Ersatzes
menschlich verantwortlichen Handelns ohnehin kaum noch verstanden.
Im Falle der Zwangsmedikamen-tierung und ihrer zwanghaften Konnexinstitute
überschritt sie seither und überschritte sie neu pseudoverrechtlicht
und pseudowissenschaftlich jede human gezogene Grenze. Hier
wäre das erreicht, was Gustav Radbruch, der große
Jurist, in anderem, jedoch analogisch heranziehbarem Zusammenhang
"gesetzliches Unrecht" genannt hat. Darum gilt, die
altrömische Mahnung: Abgeordnete und Minister, Psychiater
und Juristen mögen Gewahrsein und Gewahrwerden, dass das
Grundgesetz und seine Zweite Republik in einem insgesamt kleinen,
aber kernigen Essentiale keinen Schaden nehmen.
III. Was, wenn die verfassungsgerichtlich nur erwähnten Schranken psychiatrischer
Zwangsbehandlung rechtlich und organisatorisch prozedural ausformuliert
und institutionalisiert würden?
Zuerst
fällt auf, wie wenig sich der DRB und wie wenig sich die baden-württembergische
Regierung in ihren bis jetzt kund gewordenen Entwürfen zur Legalisierung
von Zwang um die vom Bundesverfassungsgericht verlangten Vorbedingungen
jeden Zwangs kümmerten. Das, was Baden-Württemberg gegenwärtig
anstrebt, geht freilich verfassungsgemäß über das hinaus, was
ein Land auch nach der Föderalismusreform im Kontext des Grundgesetzes
vermöchte. Erlaubte man in einer Art übergrundgesetzlichem Föderalismus,
weit über die Wesensgehaltsklausel von Art. 79 Abs. 3 GG hinaus,
den, in diesem Fall psychiatrisch begründeten Zwang buntscheckig
zu legalisieren, wäre es nicht außer jeder Reihe, länderspezifisch
auch Art. 102 GG, also das Verbot der Todesstrafe, wieder in
Frage zu stellen. Und damit die Grund- und Menschenrechte als
ob pluralistisch aufzustückeln.
Anders
ist neuerdings Ernst Heitmann verfahren. Seinem Artikel "Zwangsbehandlung
und Verfassungsrecht", in: jurisPR-FamR 13/2012, Zi 6, folgen
wir eine kurze Strecke Wegs. Wir unterstreichen seine Argumente
den Entscheidungen des BVerfG gemäß und unseres daraus zugespitzten
Grund- und Menschenrechtsverständnisses (vgl. oben I.). Heitmann
versteht seine Ausführungen als "Anmerkung
zu AG Ludwigsburg, Beschluss vom 30.01.2012 8 XVII 58/2012"
1. Heitmann beginnt mit dem "Orientierungssatz":
"Die betreuungsrechtliche Genehmigung einer Zwangsmedikation darf nur
auf Grund einer klaren und bestimmten gesetzlichen Regelung
und auf Grund klarer Verfahrensvorschriften erfolgen (Anschluss
BVerfG, 23.03.2011 - 2 BvR 882/09; 12.10.2011 - 2 BvR 633/11
und 15.12.2011 - 2 BvR 2362/11).
Eine solche Regelung ist in den betreuungsrechtlichen Vorschriften nicht
enthalten. Auch die Verfahrensvorschriften des FamFG enthalten
keine Bestimmungen über das bei der Zwangsmedikation anzuwendende
gerichtliche Verfahren. Deshalb muss der Antrag auf Genehmigung
einer Zwangsmedikation zurückgewiesen werden."
2. Wir zählen mit dem Betreuungsgericht, das die Zwangsmedikation
für geboten hielt, sich zugleich aber infolge der BVerfG Entscheidungen
rechtlich gehindert sah, einzelne Vorerfordernisse exzeptioneller
Zwangsbehandlungen auf. Wir verschärfen ihre sachlich erforderliche
Interpretation.
a) Die Anordnung einer Zwangsmedikation bedürfe klarer und bestimmter
gesetzlicher Regelungen. "Diese
seien in den betreuungsrechtlichen Vorschriften nicht gegeben."
Wir fügen hinzu: So wie es sich mit psychischen Behinderungen
nach Maßgabe heutiger, aber auch zukünftig voraussehbarer
Kenntnisse verhält, die Psychiater, eventuell Angehörige
oder andere Personen veranlasst, die mit dem Behinderten zu
tun haben, Zwangseingriffe zu verlangen, wird es klare und bestimmte
gesetzliche Regelungen nicht geben können. Es sei denn,
Klarheit würde pseudoklar und Eindeutigkeit pseudoeindeutig
simuliert, eine Art Psychiatrie der Psychiatrie. "Klare und
eindeutige" Gesetze, die also nahezu interpretationslos Entscheidungen
zwangsmedikamentöser Art ermöglichen sollen, und das
außerdem im Rahmen der Grund- und Menschenrechte, gibt
es nur über die Grenze des wissenschaftlich, medizinisch
und juristisch Vorstellbaren hinaus. Man müsste daran glauben
oder sie herrschaftlich skrupellos setzen. Allein die von den
psychischen Behinderungen bedingte, geradezu systematische Unklarheit
und die von Multivalenzen besetzte mangelnde Eindeutigkeit psychiatrischer
Anamnese und Therapie, vom zusätzlichen Unsicherheitsfaktor
Pharmakologie zu schweigen - und, nota bene, menschenrechtliche
Schranken -, als Voraussetzung gesetzlicher Genauigkeit, verhinderten
jede Leibnizsche Lösung distincte et clare.
b) Dass es verfassungsgemäß nicht angehe, zwangsweise Neuroleptika
in diversen Formen einzuflößen, versteht sich verfassungsrichterlich
von selbst. "Auch die Einwilligung des Betreuers für einwilligungs-
und krankheitsuneinsichtige Betroffene nehme einer gegen den
natürlichen Willen erfolgten Zwangsbehandlung nicht ihren Eingriffscharakter",
referiert Heitmann. "Dieser
bedürfe wie bei anderen Grundrechtseingriffen auch, eines Gesetzes,
das sowohl die materiellen wie die formellen Eingriffsvoraussetzungen
bestimme. Da das BVerfG in einer Entscheidung vom 15.12.2011
(2 BvR 2362/11) ausdrücklich darauf hingewiesen habe, dass es
die wesentlichen Grundlagen einer Zwangsbehandlung geklärt habe
und dass es an den Fachgerichten sei, entsprechend zu verfahren,
habe es - so das Ludwigsburger Betreuungsgericht, d. Verf.
- mangels gesetzlicher Grundlage daher die Behandlung
nicht genehmigen können." Liest man die Entscheidung des
BVerfG genau und bedenkt, wie besagte Fachgerichte trotz allen
verfassungsrechtlich aufgetischten Einwänden, samt den materiellen
und formellen Eingriffsvoraussetzungen, Eingriffe aufgrund eines
ohnehin fragwürdiges lex specialis rechtsförmig und möglichst
klageresistent fassen sollen, gerät man in Not oder, anders
gesagt, in eine Aporie. Eine vernünftig und insoweit rechtlich
nicht lösbare Situation. Auch wenn man an einem Rest vermeintlich
erforderlich bleibender Zwangsbehandlungen interessiert kleben
bliebe, ist der Weg eines die Psychiatrie ermächtigenden Zwangsgesetzes
von Anforderungen so um-, genauer verstellt, dass der Zwang
gesetzlich zwangsblockiert endet. Schon die zitierte "klare
und bestimmte gesetzliche Regelung" einer möglichen Zwangsbehandlung
wäre nur möglich, verstünde man unter den Adjektiva "klar und
bestimmt" metaphorisch nur mehr oder minder vage Erwägungen.
In Sachen der weiteren Anforderungen hapert es noch mehr. Wie
sollte nach der fast diffusen Art psychischer Behinderungen,
meist vag tentativer psychiatrischer Einsichten und pharmakologisch
allenfalls quantitativ plausibel prophezeihbarer Wirkungen,
in etwa garantiert werden, dass eine Zwangsbehandlung "Erfolg"
verspreche? Wir versagen uns an dieser Stelle, in den Abgrund
von komplexen Erfolgsprognosen hinunter zu schauen und monieren
nur, dass es sich hier um eine Blankettformel handelt, weniger
als einen unbestimmten Rechtsbegriff. Er öffnete nicht einmal
innerpsychiatrisch begrenzbarer Willkür Tür und Tor. Dass das
BVerfG neben eher beiläufigen, der Schwere und Tiefe des Zwangseingriffs
nicht angemessenen Voraussetzungen - diese Qualifikation gilt
gerade, wenn man dem Duktus der BVerfG folgt -, schließlich
doch eine lex specialis zuläßt, ihr aber zugleich nicht erfüllbare
materielle und formelle Eingriffsvoraussetzungen aufpackt, ist
anders kaum auszulegen als ein gerichtlich kalkuliertes Scheitern
des Gesetzgebers. Ein demokratischer Gesetzgeber im normativen
Kontext von Grund- und Menschenrechten darf nicht darauf ausgehen,
grund- und menschenrechtswidrigen Zwang zu verrechtlichen. Ein
solcherart geradezu verzwungenes Gesetz diente gewiss nicht
den psychisch Behinderten, gerade dort, wo man für ihre speziellen
Fälle keine angemessene psychiatrische oder sonst grundrechtlich
angemessene Lösung bieten könnte. Im übrigen dürfte es nicht
von ungefähr kommen, dass nicht nur das BVerfG, sondern vor
allem keine der Instanzen, die nötigenfalls dem Zwang eine gesetzliche
Gasse öffnen wollen, auch nur einmal eine systematisierte Liste
von Fällen vorgelegt hat, an denen experimentell dargelegt,
ja bewiesen würde, dass Zwang zum Besten des Behinderten dauerhaft,
ohne Nebenfolgen und Ängste im Sinne neuer "Wonnen der Gewöhnlichkeit"
(Thomas Mann) gewirkt hätte. Die erzwungene Ekstase des aufrechten
Gangs (das treffliche Bild Ernst Blochs aus "Naturrecht und
menschliche Würde" ins Gegenteil verkehrt).
IV. Warum kann ein Heilberuf, das sei unterstellt, Zwang wollen, aber
selbst davor zurückschrecken, ihn notfalls aus ärztlichem Beruf
um des Patienten willen zu üben?
Noch
länger als jahrhundertelang "Bürger und Irre"
(Klaus Dörner) miteinander verkehrten und sich mieden,
gibt es in Ab- und Ausgrenzungen einen meist zwischen Strafe,
Gewalt, einer Art Pflege in Asylen eher repressiv abschottenden
Umgang mit solchen merkwürdigen Menschenkindern mitten
in dem und neben dem, was allemal meist eher kleinräumig
als Normalität galt. Das ist der Hinter- und Untergrund
dessen, was heute erstaunlicher Weise als Teil einer naturwissenschaftlich
orientierten Medizin unter Psychiatrie verstanden wird. Sie
soll möglichst aufgrund der jeweils neuen Erkenntnisse
und Mittel mit den "A-Normalen" umgehen. Die Letztgenannten
überschneiden sich in Genesis und Funktion mit den strafgesetzlich
Kriminalisierten und auf Dauer oder zeitweise Ausgesperrten
allen "resozialisierenden" Theoremen und Praktiken
zum Trotz.
Diese,
hier nicht weiter aufzuklärende Geschichte einer praktischen
Wissenschaft (vgl. I. Kant), ihres Kontextes und ihrer Funktion,
der jeweiligen Normalität zu dienen, ohne sie infrage zu stellen
(weil die "Irren" mitten aus der bürgerlichen Gesellschaft stammen,
ihr abgegrenzt angehören), erhellt die geradezu strukturfunktionale
Ambivalenz von erklecklichen Teilen der psychiatrischen Berufe.
Zum einen sollen ihre "Berufenen" den aus diversen Gründen psychisch
unterschiedlich Behinderten helfen. Normales Funktionieren ist
das Ziel (vgl. oben die Erklärung des DRB). Zum anderen sollen
sie - bürgerlich dazu beauftragt und von einem Teil der insbesondere
verbandlich organisierten Psychiater als "ihr Beruf" angeeignet
-, notfalls zwangsweise für Ruhe der Abweichenden und vor den
Abweichenden sorgen. Erneut wollen wir anlässlich des Themas
"Psychiatrie und Zwang" nur wenige Aspekte antippen.
1. Dass sich die Psychiatrie im Allgemeinen von dem schier erdrückenden
Erbe, insbesondere der deutschen Vergangenheit nicht wahrhaft
radikal, also an die Wurzeln des Fachs gehend, emanzipiert hat,
belegt die Gier eines Großteils der Vertreterinnen und Vertreter
des Fachs, über den Zwang als Mittel des psychiatrischen Traktats
zu verfügen.
2. Dass dem so ist, unbeschadet mangelhaft ausgearbeiteter Erfahrungen
des Fachs - und schlimmen, nicht zureichend erkannten oder mit
Konsequenzen versehenen Abwegen -, hat abgesehen vom bornierten
monetären und positionellen Interesse, auch und vor allem mit
einem doppelten Umstand zu tun. Zum einen mit einem Gemisch
von Vorurteilen und Ängsten gegenüber und vor abweichendem Verhalten
persönlich bis zu eigenen Schuldgefühlen betroffener Bürgerinnen
und Bürger. Zum anderen mit dominierenden Mustern der Psychiatrie,
die Normalität anstaltsförmig und pharmakologisch herstellen
will und soll. Darum hat sie auch das Präsidium des DRB auf
ihrer Seite.
3. Vom Bundesverfassungsgericht indirekt, menschen- und grundrechtlich
orientiert zurecht angeschoben, steht endlich eine gründliche,
von Teilen der ihren schwierigen Beruf Ausübenden längst vollzogene
Reform der Psychiatrie auf der Tagesordnung. Sie kann nur gelingen,
wenn die Psychiatrie sich zum einen von allem Bezug auf Zwangseingriffe
und Zwangsmittel lossagt. Die Voraussetzung dafür ist zum anderen,
dass sich die Psychiatrie wie verwandte Fächer von der Fachlüge
einer naturwissenschaftlichen Disziplin noch in Newtons Gefolge
befreit und endlich eine gesellschaftswissenschaftlich mitkompetente
medizinisch kundige Heilwissenschaft wird. Wie immer es mit
solchen nötigen Entwicklungen bestellt sein mag, in jedem Fall
ist die Psychiatrie nötigenfalls gesetzesförmig von ihrem Zwangsbezug
und ihren Zwangsmitteln zu sich selbst als Heilwissenschaft
und -praxis zu befreien. Sie also, das Fach Psychiatrie, ist
in Richtung Emanzipation vom Zwang zu befördern. Die Zwangsverbindung
der Psychiatrie gesetzlich zu zementieren, hätte zur Folge eine
wichtige praktische, am menschlichen Verhalten und seinen möglichen
Blockaden orientierte, wissenschaftlich mitfundierte Praxis
zu verhindern. Der antiquierte Zustand der Psychiatrie, der
sie nur pharmakologisch, mangelhaft verlässlich und valide,
an der Front fragwürdigen Fortschritts marschieren lässt, trägt
mit die Verantwortung dafür, dass psychisch Behinderte und ihre
Angehörigen immer noch eine angsterregende Zwangsluft umweht.
Bei Vielen gibt es die unablässig falsche Vorstellung, man brauche
Zwang, um psychische Störungen kollektiv unmerklich und bequem
zu unterdrücken. Man schiebt zwangspsychiatrisch Schwierigkeiten
mit psychisch behinderten Menschen ab, man stellt die dementen
Alten mit neuroleptischen Mixturen still, verstärkt unachtsam
demente Erscheinungen und geht zur hektischen Tagesordnung über.
Hierbei bemerken Viele nicht - bis zu den meist überforderten,
seltsam taylorisierten Pflegekräften im Betreuungssektor -,
dass ihre eigenen humanen Umgangsformen schwinden.
4. Im nicht allzu fernen Bereich der Schule
und jugendlicher Arbeit haben jedenfalls die bundesdeutsche
Gesellschaft, ihr Rechtund ihre Institutionen weitgehend, wenngleich
meist noch unzureichend Abschied genommen: von der Prügelstrafe
und ihrer Schwarzen Pädagogik samt ihren tief eingefurchten
Vorurteilen. Gleich Pferden, so nahm man in falscher Tierverdinglichung
an, sind Kinder und Jugendliche "einzubrechen". Sprich: ihres
starrsinnig eigenen Willens zu berauben. Wer einst Griechisch
lernte, weiß: ho me dareis anthropos ou paideuetai. Der Mensch,
er nicht geschunden wird, wird nicht erzogen. Über Schulen stand
das versteinerte Motto: "Ich kann nicht, also ich will nicht"
usw. usf. Wer auch nur ein wenig Demokratie, praktizierte Menschen-
und Grundrechte will, der wird aller Schwarzen Pädagogik und
ihren Kasernen ebenso fliehen, wie pseudopsychiatrisch ausgeübtem
Zwang, seinen Einrichtungen und Instrumentarien. Zwangsweise
vergebene Neuroleptika u. ä. stören und zerstören Menschen und
ihre Gesellschaft mehr als Prügelstrafen, so sehr diese abzulehnen
sind wie Schulen als Notenkasernen.
V. "Es ist ein Erdenrest, zu
tragen peinlich und wär' er aus Asbest, er ist nicht reinlich"
(Goethe, Faust 2)
Daran
gibt es nichts zu rütteln. Psychiatrisch ausgeübter Zwang ist
in jeder Hinsicht kontraproduktiv und unzulässig. Er ist kontraproduktiv,
weil er psychiatrisch traktierte psychisch Behinderte allenfalls
vorübergehend medikamentös stillstellte und ihre menschliche
Würde auf die Dauer nähme. Von der ausstrahlenden und durchdringenden
Timidisierung nicht zu reden. Sie begleitet mit Zwang ausgestattete
Psychiatrie auf allen Schritten. Sie kann mit präsenten Zwangsmitteln
und Zwangskompetenzen schlechterdings keine irgend wissenschaftlich
unterfütterte Praxis betreiben, die Menschen anders als sacht
oder massiv entmenschend helfen soll. Psychiatrisch ausgeübter
und vorweg gesetzlich zugelassener Zwang ist von Grund auf unzulässig.
Er verzerrte nicht nur das oft apostrophierte Menschenbild,
wie es Grund- und Menschenrechte orientiert. Er misshandelt
darüber hinaus Lebewesen wie dich und mich. Eine liberaldemokratisch
verfasste, grund- und menschenrechtlich orientierte Gesellschaft
verstieße individuell und kollektiv, kurz: konstitutiv, gegen
sich selbst, verteilte sie psychiatrische Zwangslizenzen. Sie
sind darum weder in Form einer lex generalis, noch - an sich
schon diskriminierend - einer lex specialis von einem Gesetzgeber
in dem genannten normativen und praktischen Kontext zu vergeben.
Der Gesetzgeber, der solches beschlösse, also Zwang lizensierte,
widerhandelte dazuhin dem bürgerlichen Sinn von Gesetzen: der
Rechtssicherheit derjenigen zuerst, die von einem Gesetz in
ihrer Integrität negativ betroffen sein könnten. Er öffnete
stattdessen durch keine Gründe ausstopfbarer rechtlicher Willkür
die Tore, der Selbstaufhebung von Gesetzen. Dann dienten sie
nur noch der Camouflage von Zwang.
Menschen
und ihre Gesellschaften sind allem Streben zum Trotz keine collegia
logica (oder, neuerdings, technologica). Individuell und kollektiv
begegnen Erscheinungen, die zu den jeweiligen Zeiten und ihren
räumlich kulturellen Kontexten, menschliche Vorstellungs- und
damit verbundene Handlungskraft übersteigen. Hier stoßen wir
an Grenzen menschlicher Vernunft und der Formen individueller
und kollektiver Versicherungen einschließlich präventiver gesetzlicher
Regelungen, die ihre Vorabvernunft garantieren wollen. Dass
solche Grenzen der Erkenntnis und erkenntnisgeleiteten, in diesem
Sinne auch moralisch begründbaren Handelns gegeben sind und
trotz aller Fortschritte letztlich unübersteigbar bleiben, belegt
eine Menschen konstitutierende lange Kette von unübersteigbaren
Einsichten. Nur punktuell, exemplarisch und ohne nötige Ausführungen:
von Sokrates, der gescheitesten Menschen einer: ich weiß, dass
ich nichts weiß, über Kants hermetischem "Ding an sich" bis
Einstein, Heisenberg, Freud und vielen anderen, von den Belegen
höchster Kunst nicht zu reden. Darum, die vielfach, von Goethe
zumal, schöner belegbare Einsicht aus dem Faust, den "Rätseln"
des "rein" und unrein "Entsprungenen" (Hölderlin). Die ihrerseits
verworren verwirrende Bedeutung dieses Menschenverhalts, der
die unklar, aber eindeutig gezogenen Grenzen menschlicher Handlungsmöglichkeiten
profiliert, soll in Sachen "Psychiatrie und Zwang" vorläufig
abschließend in wenigen Facetten erläutert werden.
1. Wir leben in einer verrechtlichten und täglich weiter verrechtlichenden
Gesellschaft, national und in zunehmendem Maße international.
Politik geschieht, so scheint es, nahezu exklusiv im Modus des
Rechts. Dadurch ist nicht nur geradezu die Vorstellbarkeit rechtsfreier
Räume, Sachverhalte und Handlungen schier verloren gegangen
(sie zu Weiterem anregend, sei auf die nur in Sachen Folter
angestellten Überlegungen des im Motto zitierten Klaus Lüderssen
verwiesen). Als gäbe es nicht andere Formen von Organisation
und handelnder Verbindlichkeit. Dadurch wird auch außer acht
gelassen, dass die rechtlichen Regelungskomplexe ihrerseits
außer Recht im Sinne von Berechenbarkeit und Rechtssicherheit
geraten. Rechtliche Regelungen drohen zum Fetisch zu werden.
Rechtskomplexe bedingen geradezu das, was der treffliche Sozialwissenschaftler
Charles Perrow im Hinblick auf die Hyperkomplexität technologischer
Großprojekte festgestellt hat: normal accidents, ins Deutsche
übersetzt als normale Katastrophen, ereignen sich.
2. Dieses sehr viel allgemeinere Problem lässt sich an den Veränderungen
der Form(en) des Rechts zeigen. Bürgerinnen und Bürger sind
an staatlich gesatztem Recht jenseits seiner spezifischen Inhalte
vor allem deswegen interessiert, weil sie Rechtssicherheit erwarten.
Das ist der Anspruch des "Rechtstaats". Solche Rechtssicherheit
und also Berechenbarkeit setzen aber für den nicht über andere
Mittel verfügenden Bürger und die Bürgerin eine klare und verständliche
Sprache des Rechts voraus. Je komplizierter rechtliche Regelungen
in einzelnen Bereichen und insgesamt werden, desto mehr sind
sie auslegungsoffen und interpretationsbedürftig. Unbestimmte
Rechtsbegriffe nehmen bis hin zu generalklausenartigen rechtlichen
Regeln zu. Franz L. Neumann und andere haben davor schon am
Ende der Weimarer Republik gewarnt. Das heißt aber die zuständigen
staatlichen oder privaten Bürokratien nähern sich einem Auslegungsmonopol.
Die Genauigkeit von Gesetzen wird dann einer gesetzlichen Vagheit
geopfert, wenn präventive Absichten dominieren. Das, was zukünftig
rechtlich vorweg versichert werden soll, lässt sich nicht klar
und bestimmt vorweg festlegen. Darum hat Niklas Luhmann, ein
vor Jahren verstorbener Jurist und Rechtssoziologe vor dem Wechsel
des Rechts gewarnt. Es entwickele sich vom Konditionalprogramm
(mit wenn-dann Regeln werden im Prinzip bekannte Probleme rechtlich
gehegt) zu einem Zweckprogramm. Sprich: zukünftige Problemverhalte
sollen rechtlich vernetzt werden. Das könne aber nur mit großen
Rechtsmaschen geschehen. Die Nutzanwendung auf das Thema "Psychiatrie
und Zwang" dürfte ausnahmsweise einfach sein. Es sind keine
rechtssicheren, also berechenbaren, also gut begründeten verfassungsgerichtlichen
Anforderungen entsprechende, vorausgreifende, dazuhin anamnetisch
und therapeutisch abstrakte Gesetze, nicht einmal als leges
speziales, denkbar, vom grund- und menschenrechtlichen Nein
(!) nicht zu schweigen.
3. Nehmen wir an, Ausnahmen ereignen sich, Fälle psychischer Behinderungen
extremen Ausmaßes passieren, immense humane Kosten fallen an
und steigen - das ist Un-Zeit (ein negativer kairos) da keine
rechtliche Regelung zur Verfügung stehen kann. Ein nicht vorab
kalkulabler, also regelbarer Un-Fall ist gegeben. In solchen
raren Fällen müssten gegebenenfalls Psychiater oder andere hilfreich
präsente Menschen selbstverantwortlich entscheiden, was zu tun
wäre. Sie könnten sich nicht vorab auf dem festen Boden eines
präventiv entlastenden Gesetzes bewegen. Sie müssten als professionell
oder zur Hilfe Ge- und Berufene selbst verantworten, was getan
werden könnte und müsste. In der Ausnahme der Ausnahme eventuell
sogar zwangshaft. Selbstverständlich würden sie hinterher für
ihr Tun und Lassen normalrechtlich gerade stehen müssen. Das
schließt im Prinzip menschliche Verantwortung ein (mit Hans
Jonas gesprochen: Das Prinzip Verantwortung). Dass sich erwachsene
Menschen allgemein, beruflich Privilegierte besonders, also
Psychiaterinnen und Psychiater in der Regel rechtlich lizensiert,
notfalls außer herrschenden Rechts, ja sogar gegen rechtliche
Bestimmungen ihrer beruflichen Verantwortung entsprechend verhalten.
Und dafür hinterher gerade stehen. Dass dieses so selten 1933
bis 1949 und danach geschehen ist, ist die große Wunde (Trauma)
der Psychiatrie. In Zeiten eines liberalen Rechtstaats sollte
ein verantwortliches Verhalten in der rechenschaftspflichtigen
Freiheit einer oder eines psychiatrisch Berufenen geradezu selbstverständlich
sein. Sonst entriete professionell ärztliche Ethik zum Geschwätz.
4. Solches verantwortliche Verhalten im rechtsfreien Notfall, das
Psychiatrie erst vollends zum Beruf befreite, kann sich an anders
gelagerten, teilweise jedoch analogisierbaren Vorbildern und
Verfassungsgerichtsentscheidungen orientieren.
a) Lange galt für Polizeibeamte, in Berlin ist das heute noch der
Fall, dass sie von ihrer Waffe im Notfall, aber nur im Notfall
Gebrauch machen konnten. Der Waffengebrauch war auf den im Einzelnen
nicht verrechtlichbaren Notfall beschränkt. Diese Situation
hat der Gesetzgeber in den 80iger Jahren verändert. Heute ist
der "finale Todesschuss" gesetzlich legalisiert. Diese Verrechtlichung,
seither im Allgemeinen nicht von tödlicher Bedeutung, hat weder
dem Schutzauftrag noch der Verantwortung der Polizei genutzt
(vgl. zur fortlaufenden Dokumentation die einschlägigen Berichte
in der Zeitschrift "Bürgerrechte und Polizei (Cilip)".
b) Am 15.2.2006 befasste sich das Bundesverfassungsgericht mit dem
Luftsicherheitsgesetz vom Januar 2005. In seiner Entscheidung
(1 BvR 357/05) hat es die gesetzliche Regelung als nichtig erkannt,
"unmittelbare Einwirkung" der Bundeswehr in Friedenszeiten und
im Innern der BRD sei zulässig, wenn ein "Luftfahrzeug", zur
terroristischen Waffe umfunktioniert, "gegen das Leben von Menschen
eingesetzt werden soll und sie (diese Waffengewalt, d. Verf.)
das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr" sei
(siehe zur zusammenfassenden Kommentierung: Komitee für Grundrechte
und Demokratie: Wider den menschenrechtsblinden Antiterrorismus.
Konsequenzen aus der Würde des Menschen und seiner Freiheit,
Köln 2006). Diese aus verschiedenen Gründen wichtige Entscheidung
unterstreicht den Kategorischen Imperativ der Menschenrechte.
Sie stoppt die Verrechtlichung von Not-Handlungen, die den Tod
von Menschen zur Folge haben könnten, die sich ohne terroristische
Absichten im als Gefahr angesehenen Flugzeug befinden. Eine
Konsequenz zieht die verfassungsgerichtliche Entscheidung allerdings
nicht, die wir wie oben in Sachen von "Psychiatrie und Zwang"
für erforderlich halten. Dass im Notfall äußerster Gefahr wiederum
notfalls der zuständige Politiker oder der Vertreter der zuständigen
Behörde, die unter unmittelbarem Entscheidungsdruck steht, wie
es der letztlich allein personal möglichen Verantwortung ziemt,
mit einem unaufhebbaren Restrisiko entscheiden müsse. Rechtssicherheit,
ohnehin vielfach qua hypertropher Verrechtlichung vielfach gefährdet,
ja durchbrochen, ist nur zu gewährleisten, wenn die Grenzen
des Rechts und verrechtlichter Ermächtigungen erkannt und eingehalten
werden. Sonst droht - siehe "Psychiatrie und Zwang" - , dass
nicht anders zu gestaltende rechtsfreie Räume, sondern Räume
gesetzlichen Unrechts und gesetzlicher Willkür zunehmen.