Schirmherr:
Gert Postel
Geschäftsstelle: |
Gutachterliche Stellungnahme
Ratifikation
der UN Disability Convention vom 30.03.2007 und Auswirkung auf die
Gesetze für so genannte psychisch Kranke (2. überarbeitete Fassung)
Auftraggeber:
Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener e. V.
Die Ratifikation der BRK durch die Bundesrepublik
Deutschland ist bislang nicht erfolgt. Gem. Art. 59 Abs. 2 S. 1 2.
Alt. GG bedarf es vor der Ratifikation der Zustimmung der gesetzgebenden
Organe der Bundesrepublik Deutschland in Gestalt eines Bundesgesetzes.
Ein darauf gerichtetes Gesetzgebungsverfahren ist bislang nicht eingeleitet.
Die BRK tritt gem. Art. 45 Abs. 1 BRK
am 30. Tage nach der Hinterlegung der 20. Ratifikationsurkunde bei
dem Generalsekretariat der Vereinten Nationen in Kraft. Nachdem am
3.04.2008 Equador die 20. Ratifikationsurkunde hinterlegt hat, tritt
die BRK nunmehr am 3.05.2008 in Kraft. Auf dem Stand vom 29.04.2008
haben 24 Staaten die BRK
[120]
ratifiziert. 1. Umsetzung der BRK in der Bundesrepublik Deutschland
durch Gesetz Die BRK wird gem. Art. 26 Wiener Übereinkommen
über das Recht der Verträge vom 23.05.1969 (WVK)
[121]
, welcher seinerseits eine allgemeine Regel des
Völkerrechts abbildet, mit der Ratifikation für die Bundesrepublik
Deutschland im Verhältnis zu den anderen Signatarstaaten verbindlich.
Die Bundesrepublik Deutschland ist daraufhin völkerrechtlich verpflichtet,
die sich aus der BRK ergebenden Verpflichtungen zu erfüllen. Das bedeutet
gem. Art. 4 Abs. 1 S. 2 lit. a), b) und d) BRK konkret, dass sie alle
geeigneten Maßnahmen zur Umsetzung der in der BRK anerkannten Rechte
zur treffen und Diskriminierungen zu beseitigen hat. Damit ist noch nichts über die Art und
Weise zu der Umsetzung in der Bundesrepublik Deutschland gesagt. Diese
wird nicht völkerrechtlich vorgegeben, sondern ergibt sich aus der
bundesrepublikanischen Rechtsordnung. Mit dem Zustimmungsgesetz gem.
Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG ist nur die parlamentarische Kontrolle des
Regierungshandelns im völkerrechtlichen Verkehr gewährleistet
[122]
, nicht etwa die für Grundrechtseingriffe oder die
Änderung bestehender Gesetze erforderliche Umsetzung in Gesetzesform
bereits erfolgt. Da eine Umsetzung der BRK nach der vorstehend
entwickelten Auffassung die Aufhebung oder Änderung geltender Psychisch-Kranken-Gesetze
erfordert, ist innerstaatlich eine Änderung der Gesetzeslage vorzunehmen.
Damit sind zugleich die rechtlichen Mechanismen der Umsetzung der
völkerrechtlichen Verpflichtung zur Beachtung der BRK in nationales
Recht vorgezeichnet: Wo die Bundesrepublik Deutschland im Außenverhältnis
zur Umsetzung verpflichtet ist, sind die Gesetzgeber im Innenverhältnis
aufgerufen, entgegenstehendes nationales Recht - mithin die Psychisch-Kranken-Gesetze
- an die BRK anzupassen
[123]
. Die Anpassung der geltenden Psychisch-Kranken-Gesetze
ist Sache der Bundesländer. Nach dem Kompetenzgefüge des Grundgesetzes
besteht für die Gesundheitsfürsorge eine konkurrierende, hinsichtlich
der Regelungsgegenstände der Psychisch-Kranken-Gesetze vom Bund bislang
nicht ausgeschöpfte Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes nach Art.
74 Abs. 1 Nr. 7 GG. Der Bund könnte mithin allenfalls die Materie
an sich ziehen. Verortete man hingegen mit der Gegenauffassung das
Recht der Zwangsunterbringung und -behandlung im Gefahrenabwehrrecht
[124]
, bestünde eine ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit
der Länder. 2. Exkurs: Unmittelbar anwendbare Vorschriften der BRK Soweit und solange die zur Anpassung
der Psychisch-Kranken-Gesetze an die Vorgaben der BRK berufenen Gesetzgeber
dieser Verpflichtung nicht nachkommen, ist die BRK gleichwohl im völkerrechtlichen
Außenverhältnis verbindlich (Art. 27 Abs. 1 WVK) wie Bestandteil des
nationalen Rechts. Die Betroffenen können sich bei Ermangelung einer
ausdrücklichen Anpassung der Gesetzeslage allerdings nur unmittelbar
auf die BRK berufen, soweit diese ihren Sinn und ihrem Text nach unmittelbar
anwendbar ("self-executing") ist. Die unmittelbare Anwendbarkeit einer
völkerrechtlichen Verpflichtung im Sinne von Vollzugsfähigkeit erfordert,
dass der Normadressat eindeutig bezeichnet ist und die Vorschrift
inhaltlich derart bestimmt ist, dass sie ohne weiteren Umsetzungsakt
angewandt werden kann.
[125]
Dies ist bei den Art. 10, 12 Abs. 1 und 2, 15 Abs.
1, 17 und 22 Abs. 1 S. 1 BRK der Fall: Diese richten sich nicht, wie
die Mehrzahl der übrigen Vorschriften der BRK einschließlich der Art.
12 Abs. 3, 4 und 14 Abs. 1 S. 2 lit. b) BRK, an die Mitgliedstaaten,
sondern adressieren jedermann (Art. 10, 15 Abs. 1 BRK) bzw. jeden
behinderten Menschen i.S.d. BRK (Art. 12 Abs. 1 und 2, 17, 22 Abs.
1 S. 1 BRK) als unmittelbar berechtigt. Sie sind in ihrem materiellen
Gehalt auch eindeutig bestimmt und ohne weiteres ausführbar. Der materielle Zugewinn durch die unmittelbar
anwendbaren Vorschriften der BRK ist nicht in jeder Hinsicht von großer
Tragweite. Denn diese Vorschriften bilden im Wesentlichen Garantien
ab, welche in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der EMRK,
der UN- Antifolterkonvention und dem IPBPR bereits gewährleistet sind.
Zudem ist ihr Garantiegehalt auch im bundesrepublikanischen Verfassungsrecht
ebenfalls bereits abgebildet. Im Einzelnen: Art. 10 BRK versteht sich als (deklaratorische)
Bekräftigung des von Art. 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte,
Art. 2 Abs. 1 EMRK, Art. 6 Abs. 1 IPBPR und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG
garantierten Rechts auf Leben. Art. 15 Abs. 1 S. 1 BRK (Verbot der
Folter und unmenschlicher Behandlung) ist textidentisch mit den Art.
5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, Art. 7 S. 1 IPBPR
und Art. 3 EMRK. Sein Garantiegehalt wird auch von Art. 2 Abs. 1 i.V.m.
Art. 1 Abs. 1 UN- Antifolterkonvention abgebildet
[126]
. Art. 15 Abs. 1 S. 2 BRK gibt, ebenso wie Art.
7 S. 2 IPBPR, zu erkennen, dass die unfreiwillige Teilnahme an medizinischen
oder wissenschaftlichen Versuchen nach dem Verständnis der BRK ein
Unterfall der unmenschlichen, grausamen oder erniedrigenden Behandlung,
mithin ebenfalls völkerrechtlich verbindlich verboten ist. Folter
und unmenschlicher Behandlung sind auch nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 i.V.m.
1 Abs. 1 S. 1 GG unzulässig. Unmittelbar anwendbar ist auch das Recht
auf Achtung der Privatsphäre (Art. 22 Abs. 1 S. 1 BRK), welches sinngemäß
von Art. 8 Abs. 1 EMRK erfasst wird. Im Grundgesetz verteilen sich
diese Garantien auf die Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG (allgemeines
Persönlichkeitsrecht), Art. 6 Abs. 1 GG (Familie), Art. 10 Abs. 1
(Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis) und Art. 13 Abs. 1 GG (Unverletzlichkeit
der Wohnung). Spezifisch und neu ist demgegenüber
Art. 17 BRK, der ein besonderes, unmittelbar anwendbares Ungleichbehandlungsverbot
hinsichtlich Achtung der körperlichen und geistigen Unversehrtheit
behinderter Menschen bestimmt. Die angestrebte Deckungsgleichheit
mit gleichgerichteten Garantien für Nicht- Behinderte zeigt bereits,
dass die Konvention an dieser Stelle keinen Schutzumfang anstrebt,
der nicht bereits in anderen Menschenrechtsgarantien vorgefunden wird.
Nach der vorstehend ausgebreiteten, für die folgenden Betrachtungen
zugrunde gelegten Auffassung
[127]
verbietet die Vorschrift auch nicht schlechthin
Eingriffe in die körperliche und geistige Unversehrtheit. Ebenso steht
Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, gegen dessen Anwendbarkeit auf psychisch Kranke
u.a. die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts spricht
[128]
, einem auf eine als Besserung verstandene Veränderung
gerichteten Eingriff jedenfalls nach der herrschenden Auffassung nicht
entgegen
[129]
. Ein materieller Zugewinn gegenüber dem geltenden
nationalen oder Völkerrecht ergibt sich aus der Vorschrift mithin
nicht. Art. 12 Abs. 1 BRK ist seinem Inhalt
nach ebenfalls keine Selbstverständlichkeit in der Völkerrechtsgemeinschaft
und war dementsprechend umstritten
[130]
. Die von den Vertragsstaaten ausgesprochene deklaratorische
Bekräftigung der Rechtsfähigkeit von behinderten Menschen im Sinne
der BRK gibt gleichwohl zu erkennen, dass ein voraussetzungsloser,
wenn auch nicht ohne die Ausgestaltung der Rechtssubjektivität durch
die jeweiligen Rechtsordnungen denkbarer Anspruch auf Anerkennung
als rechtsfähige Person bestehen soll. Art. 12 Abs. 2 BRK schließt
seinem Wortlaut nach nicht an eine gleichsam vorgefundenen Rechtsfähigkeit
an, sondern verpflichtet die Vertragsstaaten auf die Anerkennung der
gleichberechtigten legal capacity.
Dieser Anerkennungsauftrag ist dem Wortlaut der Vorschrift nach nicht
von Maßnahmen der Vertragsstaaten abhängig, sondern als unmittelbar
zu beachtende Verpflichtung ausgestaltet. Art. 12 Abs. 1 und 2 BRK
erweisen sich damit als self- executing. Damit erweist sich das nach der dieser
Betrachtungen zugrunde liegenden Auffassung bestehende Verbot der
Zwangsbehandlung nach Art. 12 Abs. 2 BRK
[131]
als unmittelbar ausführbar, während das Verbot
der Zwangsunterbringung nach Art. 14 Abs. 1 S. 2 lit. b) BRK
[132]
auf einer umsetzungsbedürftigen Vorschrift beruht.
Die Bundesrepublik Deutschland wird damit in beiden Fällen nicht von
der Anpassung der Gesetzeslage frei (Art. 4 Abs. 1 S. 2 lit. a), b)
BRK). Jedoch haben die zur Anwendung des nationalen Rechts berufenen
Gerichte und Behörden nur das Verbot der Zwangsbehandlung unmittelbar
zu beachten. Hinsichtlich des eine Änderung nationalen Rechts erzwingenden
14 Abs. 1 S. 2 lit. b) BRK
[133]
ist die BRK von ihrem Text her ausschließlich an
die Signatarstaaten gerichtet und einer Umsetzung in nationales Recht
bedürftig, um praktische Wirksamkeit zu erlangen. 3. Materielle Vorgaben der BRK für die Regelungsgegenstände der Psychisch-Kranken-Gesetze
a) Zwangsunterbringung Aus der vorstehend entwickelten, für
die folgenden Betrachtungen zugrunde zu legenden Auffassung, dass
eine Anknüpfung an die psychische Krankheit eine Freiheitsentziehung
nicht rechtfertigen kann
[134]
, folgt: Soweit eine Freiheitsentziehung an eine
psychische Krankheit anknüpft und/ oder ihrem Zweck nach über die
Abwehr von Gefahren hinausgeht, ist die Freiheitsentziehung mit der
BRK nicht vereinbar. Für die geltenden Psychisch-Kranken-Gesetze
bedeutet dies, dass insbesondere das tatbestandliche Abstellen auf
krankheitsbedingtes Verhalten
[135]
unzulässig wird. In der Sache wäre damit dem Sonderfreiheitsentziehungsregime
der Psychisch-Kranken-Gesetze der Boden entzogen. Entsprechend sind
die gesetzlichen Voraussetzungen von Freiheitsentziehungen bei sog.
psychisch Kranken auf das schlichte Vorliegen einer Gefahr zurückzuführen. Die Schutzziele der Psychisch-Kranken-Gesetze
- das Leben oder die Gesundheit sog. psychisch Kranker oder besonders
bedeutender Rechtsgüter anderer (§ 8 Abs. 1 S. 1 PsychKG
Bln) - sind damit als legitime Pflichtaufgaben des Staates
[136]
nicht in Frage gestellt. Mit der BRK ist auch nichts
gegen die Legitimität von Gefahrenabwehr mittels Freiheitsentziehung
als ultima ratio einzuwenden
[137]
und das Bereithalten von Hilfsangeboten, Betreuungsmöglichkeiten
usw. auf freiwilliger Basis in keiner Weise eingeschränkt. Vielmehr
erscheint solches nach Art. 25 BRK sogar besonders geboten. Allerdings
findet der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum bei der Wahrnehmung
von Schutzpflichten nach der hier zugrundegelegten Auslegung in der
BRK eine Schranke insoweit, als Freiheitsentziehungen, die das Vorliegen
einer Behinderung (hier: in Gestalt einer psychischen Erkrankung)
voraussetzen, nicht zulässig sind. Das gesetzgeberische Ermessen
zur Erreichung der Schutzziele des Psychisch-Kranken-Gesetze ist dadurch
konventionssrechtlich beschränkt. b) Zwangsbehandlung Soweit die Psychisch-Kranken-Gesetze
eine - und sei es nur vorläufige - Zwangsbehandlung ermöglichen
(etwa § 30 Abs. 2 S. 2 PsychKG Bln), ist auch diese gesetzliche
Eingriffsbefugnis abzuschaffen
[138]
. Damit ist zugleich ein obligatorischer Behandlungsvollzug
(§ 9 PsychKG Bln) unzulässig. Dies muss Auswirkungen auf das Unterbringungskonzept
der Psychisch-Kranken-Gesetze haben. Unterbringungszwecke, welche
neben der Gefahrenabwehr zugleich auf die Behandlung gegen den Willen
der Betroffenen zielen, sind mit der BRK nicht zu vereinbaren. Dem
Gesetzgeber steht es frei, die vorhandenen - auch in den Psychisch-Kranken-Gesetzen
geregelten (etwa § 3 ff PsychKG Bln) - Hilfskonzepte umzugestalten.
Mit der hier zugrundegelegten Interpretation der BRK kommen aber auch
therapeutische und Erziehungszwecke nach den Psychisch-Kranken-Gesetzen
[139]
und Zwangsbehandlungen ohne den Willen der Betroffenen
[140]
auf den Prüfstand. c) Gestaltungsspielräume und Fürsorgepflichten des Gesetzgebers Damit ist im Ergebnis das spezifische
Zwangsregime der Psychisch-Kranken-Gesetze abzuschaffen. Der Gesetzgeber
wäre angesichts nach der BRK bestehender Gesundheitsfürsorgepflichten
gleichwohl gehalten, weniger eingriffsintensive Maßnahmen zu wählen
und die freiwillige Behandlung sicherzustellen. Auch der Vollzug von
Freiheitsentziehungen zu Gefahrenabwehrzwecken in geschlossenen Einrichtungen
(§ 10 PsychKG Bln) ist, da die BRK über das Verbot von Zwangsbehandlung
und -unterbringung hinaus keine Regelung über die Art und Weise von
Gefahrenabwehr vorgibt, nicht von vornherein ausgeschlossen. Wohl
aber ist ein Zwang zur Behandlung bzw. Teilnahme an vorbereitenden
Maßnahmen (vgl. § 30 Abs. 1 S. 2 - 4 PsychKG Bln) unzulässig. d) konventionskonforme Auslegung als Übergangslösung und Regulativ Solange und soweit es nicht zu einer
Anpassung der Psychisch-Kranken-Gesetze an Art. 12 Abs. 2, 14 Abs.
1 S. 2 lit. b) BRK kommt, bleiben die mit der BRK nicht zu vereinbarenden
gesetzlichen Vorschriften unverändert in Kraft. Völkerrechtliche Verträge
erzwingen in Fällen, in denen das nationale (Gesetzes-) Recht zu ihnen
im Widerspruch steht, eine völkerrechtskonforme Auslegung des nationalen
Rechts, um einen Widerspruch von nationaler Rechtsordnung und völkerrechtlichen
Verpflichtungen zu vermeiden
[141]
. Das nationale Recht ist dabei grundsätzlich so
zu handhaben, dass Völkerrechtsverstöße nach Möglichkeit vermieden
und beseitigt werden
[142]
. Diese Anpassungsleistung ist hinsichtlich
der Zwangsbehandlung gegen den Willen der Betroffenen bspw. nach §
30 Abs. 2 S. 2 PsychKG Berlin dadurch vorweggenommen, dass Art. 12
Abs. 2 BRK als unmittelbar anwendbares Verbot der Durchführung einer
Zwangsbehandlung ohne weiteren Umsetzungsakt des Gesetzgebers entgegensteht
[143]
. Die gesetzlichen Vorschriften zur Zwangsunterbringung
hingegen sind nicht durch unmittelbar anwendbares Konventionsrecht
direkt überwunden. Art. 14 Abs. 1 S. 2 lit. b) BRK fordert aber eine
Auslegung dahingehend, dass ausschließlich eine Gefahrenlage eine
Freiheitsentziehung rechtfertigen kann. 4. Entgegenstehendes Verfassungsrecht? Eine Anpassung des Systems der Zwangsunterbringung
und -behandlung psychisch Kranker an die Vorgaben der BRK könnte
sich dem Einwand aussetzen, im Ergebnis die verfassungsrechtlichen
Schutzpflichten des Staates für die Betroffenen oder Dritte zu
vernachlässigen. Es sei daher erörtert, ob Zwangsunterbringung
und -behandlung im Sinne der geltenden Psychisch-Kranken-Gesetze von
Verfassungs wegen unverzichtbar sind. a) Schutzpflichten für Rechtsgüter Dritter Der Schutz Dritter vor Gefahren, die
mit hoher Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts dem Leben, der
körperlichen Unversehrtheit und anderen hochrangigen Rechtsgütern
wie der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung drohen, stellt
nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein überragendes
Gemeinwohlinteresse dar. Es ist danach eine Pflichtaufgabe des Staates,
diesen Schutz durch geeignete Mittel zu gewährleisten
[144]
. Wie der Gesetzgeber diese Schutzaufgaben wahrnimmt,
ist seinem weiten Gestaltungsermessen überlassen. Die Verfassung gibt
den Schutz als Ziel vor, nicht aber seine Ausgestaltung im Einzelnen.
Die Freiheitsentziehung ist dabei als legitimes Mittel dem Grunde
nach von der Rechtsprechung anerkannt: Das Bundesverfassungsgericht
kommt bei der Erörterung von Schutzpflichten zu dem Ergebnis, dass
als Mittel zum Schutz von Leben, Unversehrtheit und Freiheit der Bürger
demjenigen die Freiheit entzogen werden kann, von dem ein Angriff
auf diese Schutzgüter zu erwarten ist. Dies ist auch vor dem Hintergrund
der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) bei Beachtung des
Verhältnismäßigkeitsprinzips verfassungsrechtlich legitim, wenn die
Voraussetzungen und die Ausgestaltung der Freiheitsentziehung durch
eine enge Bindung an den zu erfüllenden Schutzzweck streng begrenzt
werden
[145]
. Der zuletzt am Beispiel der nachträglichen
Sicherungsverwahrung von als hochgefährlich eingeschätzten
Straftätern ausgebreiteten Argumentation des Bundesverfassungsgerichts
[146]
wird zuweilen verkürzend die Bezeichnung "Untermaßverbot"
beigegeben
[147]
, welche die Erwartung weckt, dass es neben dem
aus den Grundrechten und dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Übermaßverbot
auch ein verfassungsrechtlich bestimmbares Mindestmaß an Eingriffsintensität
geben könnte. Ungeachtet der von jener Entscheidung von dem Bundesverfassungsgerichts
gezogenen Konsequenz, die nachträgliche Sicherheitsverwahrung
aufgrund von kompetenzwidrig erlassenen Landesgesetzen für einen
Übergangszeitraum im Interesse des Schutzes der Allgemeinheit
vor bestimmten hochgefährlichen Straftätern hinzunehmen
[148]
, reicht auch diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
nicht über die Bestimmung von Schutzzielen hinaus und gesteht
dem Gesetzgeber beim Ausgleich kollidierender Grundrechtspositionen
einen weiten Gestaltungsspielraum zu. Das Bundesverfassungsgericht hat sich
zu dem von einer Strömung in der rechtswissenschaftlichen Literatur
entwickelten sog. Untermaßverbot ausdrücklich nur in der
zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch
[149]
bekannt. Diese entwickelt zunächst die seitdem
mehrfach herangezogene Formel, dass der Staat hochwertige Rechtsgüter
wie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit vor drohenden
Gefahren zu schützen habe, Art und Umfang des Schutzes im Einzelnen
zu bestimmen aber Aufgabe des Gesetzgebers seien
[150]
. Diese Argumentation ist in der zweiten Abtreibungsentscheidung
durch die Bezugnahme auf ein in der Literatur so bezeichnetes Untermaßverbot
ergänzt um die Feststellung, dass die Grundrechte einen - unter
Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter - angemessenen
und wirksamen Schutz hochwertiger Rechtsgüter verlangten. Die
Vorkehrungen, die der Gesetzgeber trifft, müssten für einen
angemessenen und wirksamen Schutz ausreichend sein und zudem auf sorgfältigen
Tatsachenermittlungen und vertretbaren Einschätzungen beruhen,
woraus sich Mindestanforderungen an den strafrechtlichen Schutz des
ungeborenen Lebens ergäben
[151]
. Während die Formel vom grundsätzlichen
Schutzbedürfnis gerade von Leben und körperliche Unversehrtheit einerseits
und einem Ausgestaltungsauftrag an den Gesetzgeber andererseits seitdem
mehrfach Wiederholung gefunden hat
[152]
, ist die direkte Bezugnahme der zweiten Entscheidung
zum Schwangerschaftsabbruch auf das so genannten "Untermaßverbot"
vereinzelt geblieben. Dies mit gutem Grund, denn der Schwangerschaftsabbruch
ist auch verfassungsrechtlich eine Extremkonstellation, da er die
Frage aufwirft, inwieweit der Staat einen als Tötung verstandenen
Eingriff dem Willen Dritter überlassen darf. Ebenso wie etwa das Beispiel
der landesgesetzlichen nachträglichen Sicherungsverwahrungen kann
auch die Beurteilung der verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen
an den Schutz vor Gefahren, die von psychisch Kranken ausgehen (sollen),
an diese aus der Sicht des zu schützenden Rechtsguts finale Gefährdung
nicht heranreichen. Das Untermaßverbot als Forderung nach einem im
Interesse des bedrohten Rechtsguts auch nachweisbar praktisch wirksamen
Schutz hat in seiner Tiefe auf einen Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber
beschränkt zu bleiben, ohne eine Verschiebung der grundrechtlichen
Gewichtung zwischen Betroffenen und Allgemeinheit zu ermöglichen.
Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
kann mithin nicht darauf geschlossen werden, dass der Gesetzgeber
beim Schutz der Allgemeinheit vor Gefahren, die von sog. psychisch
Kranken ausgehen sollen, in seiner Gestaltungsfreiheit beschränkt
wäre und auf Zwangsunterbringung oder -behandlung von Verfassungs
wegen nicht verzichten dürfte, solange er effektiv Gefahrenabwehr
betreiben kann. Dass sich aber die Abwehr von Gefahren, die von sog.
psychisch Kranken ausgehen sollen, ausschließlich mit dem Mittel einer
Zwangsunterbringung im Sinne einer über die Freiheitsentziehung hinausgehenden,
fürsorgliche Ziele verfolgenden und eine Behandlung einschließenden
Unterbringung erreichen ließen, ist nicht ersichtlich. b) Schutz der Betroffenen vor Selbstschädigung Das Bundesverfassungsgericht hat sich
zuletzt bei der Überprüfung der Unterbringung nach § 1631 b BGB
[153]
mit einer Freiheitsentziehung zwecks Abwehr von
Schaden für die Betroffenen befasst. Die verfassungsrechtliche Betrachtung
nimmt dabei ihren Ausgang mit der Feststellung, dass Freiheitsentziehungen
stets einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterziehen sind.
Dies schließe allerdings nicht von vornherein einen staatlichen Eingriff
aus, der ausschließlich den Zweck verfolgt, einen psychisch Kranken
vor sich selbst in Schutz zu nehmen und ihn zu seinem eigenen Wohl
in einer geschlossenen Einrichtung unterzubringen. Die staatliche
Fürsorge schließe die Befugnis ein, psychisch Kranke, die infolge
des Krankheitszustandes und damit verbundener fehlender Einsichtsfähigkeit
die Schwere ihrer Erkrankung und die Notwendigkeit von Behandlungsmaßnahmen
nicht zu beurteilen vermögen oder sich trotz einer solchen Erkenntnis
infolge der Krankheit nicht zu einer Behandlung entschließen, zwangsweise
in einer geschlossenen Einrichtung unterzubringen, wenn sich dies
als unumgänglich erweist, um die drohende gewichtige gesundheitliche
Schädigung von dem Kranken abzuwenden, wenn sich die Unterbringung
als verhältnismäßig erweist. Damit schließt sich das Bundesverfassungsgericht
implizit der Auffassung von der fürsorglichen Zwecksetzung von
Zwangsunterbringung und -behandlung an. Eine - mit der BRK kollidierende
- Rechtspflicht zur zwangsweisen Besserung gegen den Willen
der Betroffenen kann aus der von dem Bundesverfassungsgericht damit
anerkannten Befugnis zum Schutze sog. psychisch Kranker vor krankheitsbedingt
drohenden gewichtigen gesundheitlichen Schädigungen gegen
einen bekundeten Willen nicht abgeleitet werden. Erweist es sich als
mit der BRK unvereinbar, sog. psychisch Kranke zwangsweise zu behandeln
[154]
, ist die von dem Bundesverfassungsgericht als Fürsorge
verstandene und als solche zugelassene Unterbringung aus konventionsrechtlichen
Gründen unzulässig.
[119]
siehe oben III. 3. b) dd) zur Zwangsunterbringung und
III. 4. d) cc) zur Zwangsbehandlung
[120]
Jeweils aktuelle Übersicht unter http://www.un.org/disabilities/default.asp?id=257
[121]
BGBl. 1985 II, 927
[122]
BVerfG, NJW 1994, 2207 (2211) m.w.N = BVerfGE 90, 269
ff
[123]
vgl. auch Art. 4 Abs. 1 S. 2 lit. a), b) und d) BRK
[124]
Str., zum Streitstand s. oben II.1.
[125]
BVerfG, B.v. 15.02.2006, 2 BvR 1476/03, Abs. Nr. 21 =
NJW 2006, 2542 (2543); BVerfG, B.v. 19.09.2006, 2 BvR 2115/01 u.a.,
Abs.Nr. 53 = NStZ 2007, 159 (160); Dahm/ Delbrück/ Wolfrum, Völkerrecht,
2. Aufl. Berlin 1989, § 9 Rn 192.
[126]
vgl. auch oben III. 4. b)
[127]
s. oben III.
[128]
s. oben III. 2.
[129]
BVerfGE 96, 288 (301 ff); BVerfGE 99, 341 (357); BVerfG
(Kammer), B.v.10.02.2006, 1 BvR 91/06, Abs. Nr. 13, 15 f = NVwZ 2006,
679 ff; zum Ganzen Osterloh in: Sachs (Hg), Grundgesetz, 4. Aufl.
München 2007, Art. 3 Rn. 313, 315; zu der Bedeutung von Art. 3 Abs.
3 S. 2 GG für kompensatorische Ungleichbehandlungen Starck in: v.
Mangoldt/ Klein, Kommentar zum Grundgesetz, 5. Aufl. 2005, Art. 3
Abs. 3 Rn 419 f.
[130]
s. oben III. 4. b) und Lachwitz, RdLh 1/07, S. 42
[131]
s. oben III. 4. d) cc)
[132]
s. oben III.3. b) dd)
[133]
s. oben III. 3. b) dd) zu Art. 14 Abs. 1 S. 2 lit. b)
BRK
[134]
III. 3. b) dd) zu Art. 14 Abs. 1 S. 2 lit. b) BRK
[135]
bspw. § 8 Abs. 1 PsychKG Bln
[136]
BVerfG, U. v. 10.02.2004, 2 BvR 834/02, Abs. Nr. 164
= NJW 2004, 750 (757) (Nachträgliche Sicherungsverwahrung)
unter Bezugnahme auf BVerfG NJW 1993, 1751 (1753) = BVerfGE 88, 203
(
[137]
s. oben IV. 3. a)
[138]
s. oben III. 4. d) cc)
[139]
etwa § 28 Abs. 1 S. 3 PsychKG Bln
[140]
§ 30 Abs. 2 S. 2 PsychKG Bln
[141]
BVerfGE 74, 358 (370)
[142]
BVerfGE 58, 1 (34)
[143]
s. soeben IV. 3. b)
[144]
BVerfG, U. v. 10.02.2004, 2 BvR 834/02, Abs. Nr. 164
= NJW 2004, 750 (757) m.w.N.
[145]
BVerfG, U. v. 10.02.2004, 2 BvR 834/02, Abs. Nr. 165= NJW 2004, 750 (757) m.w.N.
[146]
BVerfG, U. v. 10.02.2004, 2 BvR 834/02, Abs. Nr. 164
= NJW 2004, 750 (757) m.w.N.
[147]
vgl. etwa die abw. Meinung der Richterinnen und Richter
Broß, Gerhard und Osterloh, BVerfG, U. v. 10.02.2004, 2 BvR 834/02,
Abs. Nr. 192 = NJW 2004,
750 (759)
[148]
BVerfG, U. v. 10.02.2004, 2 BvR 834/02, Abs. Nr. 172
= NJW 2004, 750 (757)
[149]
BVerfG, NJW 1993, 1751 (
[150]
BVerfG, NJW 1993, 1751 (1752 f.) = BVerfGE 88, 203 ff
[151]
BVerfG, NJW 1993, 1751 (1752 f.) = BVerfGE 88, 203 ff;
ähnlich BVerfG, NZA 95, 272 (275) = BVerfGE 92, 26 ff
[152]
BVerfG, U. v. 10.02.2004, 2 BvR 834/02, Abs. Nr. 164
= NJW 2004, 750 (757); BVerfG, NZA 1995,
272 (275) = BVerfGE 92,
26 (46); BVerfGE 97, 169 (
[153]
BVerfG, B. v. 14.06.2007, 1 BvR 338/07, Abs. - Nr. 24
ff
[154]
s. oben III. 4. d) cc)
|