Schirmherr: Gert Postel

Geschäftsstelle:
Haus der Demokratie u. Menschenrechte
Greifswalder Straße 4
10405 Berlin

Gutachterliche Stellungnahme

 

 

Ratifikation der UN Disability Convention vom 30.03.2007 und Auswirkung auf die Gesetze für so genannte psychisch Kranke
am Beispiel der Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung nach dem PsychKG Berlin

(2. überarbeitete Fassung)

 

von
Wolfgang Kaleck, Rechtsanwalt Berlin,
Sönke Hilbrans, Rechtsanwalt Berlin,
Sebastian Scharmer, Rechtsanwalt Berlin
-

 

Auftraggeber: Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener e. V.


 

 IV. Folgen einer Unvereinbarkeit bestimmter Vorschriften
des PsychKG Berlin mit der BRK


Wie gezeigt bestehen gute Gründe, die Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung sog. psychisch Kranker nach dem PsychKG Bln mit den Art. 12 Abs. 3, 4, Art. 14 Abs. 1 S. 2 lit. b) BRK für unvereinbar zu erachten [119] . Es stellt sich die Frage, welche Rechtsfolgen eine teilweise Unvereinbarkeit für die Bundesrepublik Deutschland und für die Betroffenen hätte.

Dabei sei von der Rechtslage nach einer Ratifikation der BRK durch die Bundesrepublik Deutschland in Gestalt der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde (Art. 43 S. 1, 45 Abs. 1 BRK) ausgegangen.  

Die Ratifikation der BRK durch die Bundesrepublik Deutschland ist bislang nicht erfolgt. Gem. Art. 59 Abs. 2 S. 1 2. Alt. GG bedarf es vor der Ratifikation der Zustimmung der gesetzgebenden Organe der Bundesrepublik Deutschland in Gestalt eines Bundesgesetzes. Ein darauf gerichtetes Gesetzgebungsverfahren ist bislang nicht eingeleitet.  

Die BRK tritt gem. Art. 45 Abs. 1 BRK am 30. Tage nach der Hinterlegung der 20. Ratifikationsurkunde bei dem Generalsekretariat der Vereinten Nationen in Kraft. Nachdem am 3.04.2008 Equador die 20. Ratifikationsurkunde hinterlegt hat, tritt die BRK nunmehr am 3.05.2008 in Kraft. Auf dem Stand vom 29.04.2008 haben 24 Staaten die BRK [120] ratifiziert.

 

1. Umsetzung der BRK in der Bundesrepublik Deutschland durch Gesetz 

Die BRK wird gem. Art. 26 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23.05.1969 (WVK) [121] , welcher seinerseits eine allgemeine Regel des Völkerrechts abbildet, mit der Ratifikation für die Bundesrepublik Deutschland im Verhältnis zu den anderen Signatarstaaten verbindlich. Die Bundesrepublik Deutschland ist daraufhin völkerrechtlich verpflichtet, die sich aus der BRK ergebenden Verpflichtungen zu erfüllen. Das bedeutet gem. Art. 4 Abs. 1 S. 2 lit. a), b) und d) BRK konkret, dass sie alle geeigneten Maßnahmen zur Umsetzung der in der BRK anerkannten Rechte zur treffen und Diskriminierungen zu beseitigen hat.  

Damit ist noch nichts über die Art und Weise zu der Umsetzung in der Bundesrepublik Deutschland gesagt. Diese wird nicht völkerrechtlich vorgegeben, sondern ergibt sich aus der bundesrepublikanischen Rechtsordnung. Mit dem Zustimmungsgesetz gem. Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG ist nur die parlamentarische Kontrolle des Regierungshandelns im völkerrechtlichen Verkehr gewährleistet [122] , nicht etwa die für Grundrechtseingriffe oder die Änderung bestehender Gesetze erforderliche Umsetzung in Gesetzesform bereits erfolgt.  

Da eine Umsetzung der BRK nach der vorstehend entwickelten Auffassung die Aufhebung oder Änderung geltender Psychisch-Kranken-Gesetze erfordert, ist innerstaatlich eine Änderung der Gesetzeslage vorzunehmen. Damit sind zugleich die rechtlichen Mechanismen der Umsetzung der völkerrechtlichen Verpflichtung zur Beachtung der BRK in nationales Recht vorgezeichnet: Wo die Bundesrepublik Deutschland im Außenverhältnis zur Umsetzung verpflichtet ist, sind die Gesetzgeber im Innenverhältnis aufgerufen, entgegenstehendes nationales Recht - mithin die Psychisch-Kranken-Gesetze - an die BRK anzupassen [123] .  

Die Anpassung der geltenden Psychisch-Kranken-Gesetze ist Sache der Bundesländer. Nach dem Kompetenzgefüge des Grundgesetzes besteht für die Gesundheitsfürsorge eine konkurrierende, hinsichtlich der Regelungsgegenstände der Psychisch-Kranken-Gesetze vom Bund bislang nicht ausgeschöpfte Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG. Der Bund könnte mithin allenfalls die Materie an sich ziehen. Verortete man hingegen mit der Gegenauffassung das Recht der Zwangsunterbringung und -behandlung im Gefahrenabwehrrecht [124] , bestünde eine ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit der Länder.

 

2. Exkurs: Unmittelbar anwendbare Vorschriften der BRK

Soweit und solange die zur Anpassung der Psychisch-Kranken-Gesetze an die Vorgaben der BRK berufenen Gesetzgeber dieser Verpflichtung nicht nachkommen, ist die BRK gleichwohl im völkerrechtlichen Außenverhältnis verbindlich (Art. 27 Abs. 1 WVK) wie Bestandteil des nationalen Rechts. Die Betroffenen können sich bei Ermangelung einer ausdrücklichen Anpassung der Gesetzeslage allerdings nur unmittelbar auf die BRK berufen, soweit diese ihren Sinn und ihrem Text nach unmittelbar anwendbar ("self-executing") ist. Die unmittelbare Anwendbarkeit einer völkerrechtlichen Verpflichtung im Sinne von Vollzugsfähigkeit erfordert, dass der Normadressat eindeutig bezeichnet ist und die Vorschrift inhaltlich derart bestimmt ist, dass sie ohne weiteren Umsetzungsakt angewandt werden kann. [125] Dies ist bei den Art. 10, 12 Abs. 1 und 2, 15 Abs. 1, 17 und 22 Abs. 1 S. 1 BRK der Fall: Diese richten sich nicht, wie die Mehrzahl der übrigen Vorschriften der BRK einschließlich der Art. 12 Abs. 3, 4 und 14 Abs. 1 S. 2 lit. b) BRK, an die Mitgliedstaaten, sondern adressieren jedermann (Art. 10, 15 Abs. 1 BRK) bzw. jeden behinderten Menschen i.S.d. BRK (Art. 12 Abs. 1 und 2, 17, 22 Abs. 1 S. 1 BRK) als unmittelbar berechtigt. Sie sind in ihrem materiellen Gehalt auch eindeutig bestimmt und ohne weiteres ausführbar.  

Der materielle Zugewinn durch die unmittelbar anwendbaren Vorschriften der BRK ist nicht in jeder Hinsicht von großer Tragweite. Denn diese Vorschriften bilden im Wesentlichen Garantien ab, welche in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der EMRK, der UN- Antifolterkonvention und dem IPBPR bereits gewährleistet sind. Zudem ist ihr Garantiegehalt auch im bundesrepublikanischen Verfassungsrecht ebenfalls bereits abgebildet. Im Einzelnen: 

Art. 10 BRK versteht sich als (deklaratorische) Bekräftigung des von Art. 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, Art. 2 Abs. 1 EMRK, Art. 6 Abs. 1 IPBPR und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG garantierten Rechts auf Leben.  

Art. 15 Abs. 1 S. 1 BRK (Verbot der Folter und unmenschlicher Behandlung) ist textidentisch mit den Art. 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, Art. 7 S. 1 IPBPR und Art. 3 EMRK. Sein Garantiegehalt wird auch von Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 UN- Antifolterkonvention abgebildet [126] . Art. 15 Abs. 1 S. 2 BRK gibt, ebenso wie Art. 7 S. 2 IPBPR, zu erkennen, dass die unfreiwillige Teilnahme an medizinischen oder wissenschaftlichen Versuchen nach dem Verständnis der BRK ein Unterfall der unmenschlichen, grausamen oder erniedrigenden Behandlung, mithin ebenfalls völkerrechtlich verbindlich verboten ist. Folter und unmenschlicher Behandlung sind auch nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 S. 1 GG unzulässig.  

Unmittelbar anwendbar ist auch das Recht auf Achtung der Privatsphäre (Art. 22 Abs. 1 S. 1 BRK), welches sinngemäß von Art. 8 Abs. 1 EMRK erfasst wird. Im Grundgesetz verteilen sich diese Garantien auf die Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG (allgemeines Persönlichkeitsrecht), Art. 6 Abs. 1 GG (Familie), Art. 10 Abs. 1 (Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis) und Art. 13 Abs. 1 GG (Unverletzlichkeit der Wohnung).  

Spezifisch und neu ist demgegenüber Art. 17 BRK, der ein besonderes, unmittelbar anwendbares Ungleichbehandlungsverbot hinsichtlich Achtung der körperlichen und geistigen Unversehrtheit behinderter Menschen bestimmt. Die angestrebte Deckungsgleichheit mit gleichgerichteten Garantien für Nicht- Behinderte zeigt bereits, dass die Konvention an dieser Stelle keinen Schutzumfang anstrebt, der nicht bereits in anderen Menschenrechtsgarantien vorgefunden wird. Nach der vorstehend ausgebreiteten, für die folgenden Betrachtungen zugrunde gelegten Auffassung [127] verbietet die Vorschrift auch nicht schlechthin Eingriffe in die körperliche und geistige Unversehrtheit. Ebenso steht Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, gegen dessen Anwendbarkeit auf psychisch Kranke u.a. die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts spricht [128] , einem auf eine als Besserung verstandene Veränderung gerichteten Eingriff jedenfalls nach der herrschenden Auffassung nicht entgegen [129] . Ein materieller Zugewinn gegenüber dem geltenden nationalen oder Völkerrecht ergibt sich aus der Vorschrift mithin nicht. 

Art. 12 Abs. 1 BRK ist seinem Inhalt nach ebenfalls keine Selbstverständlichkeit in der Völkerrechtsgemeinschaft und war dementsprechend umstritten [130] . Die von den Vertragsstaaten ausgesprochene deklaratorische Bekräftigung der Rechtsfähigkeit von behinderten Menschen im Sinne der BRK gibt gleichwohl zu erkennen, dass ein voraussetzungsloser, wenn auch nicht ohne die Ausgestaltung der Rechtssubjektivität durch die jeweiligen Rechtsordnungen denkbarer Anspruch auf Anerkennung als rechtsfähige Person bestehen soll. Art. 12 Abs. 2 BRK schließt seinem Wortlaut nach nicht an eine gleichsam vorgefundenen Rechtsfähigkeit an, sondern verpflichtet die Vertragsstaaten auf die Anerkennung der gleichberechtigten legal capacity. Dieser Anerkennungsauftrag ist dem Wortlaut der Vorschrift nach nicht von Maßnahmen der Vertragsstaaten abhängig, sondern als unmittelbar zu beachtende Verpflichtung ausgestaltet. Art. 12 Abs. 1 und 2 BRK erweisen sich damit als self- executing.  

Damit erweist sich das nach der dieser Betrachtungen zugrunde liegenden Auffassung bestehende Verbot der Zwangsbehandlung nach Art. 12 Abs. 2 BRK [131] als unmittelbar ausführbar, während das Verbot der Zwangsunterbringung nach Art. 14 Abs. 1 S. 2 lit. b) BRK [132] auf einer umsetzungsbedürftigen Vorschrift beruht. Die Bundesrepublik Deutschland wird damit in beiden Fällen nicht von der Anpassung der Gesetzeslage frei (Art. 4 Abs. 1 S. 2 lit. a), b) BRK). Jedoch haben die zur Anwendung des nationalen Rechts berufenen Gerichte und Behörden nur das Verbot der Zwangsbehandlung unmittelbar zu beachten. Hinsichtlich des eine Änderung nationalen Rechts erzwingenden 14 Abs. 1 S. 2 lit. b) BRK [133] ist die BRK von ihrem Text her ausschließlich an die Signatarstaaten gerichtet und einer Umsetzung in nationales Recht bedürftig, um praktische Wirksamkeit zu erlangen.

 

3. Materielle Vorgaben der BRK für die Regelungsgegenstände der Psychisch-Kranken-Gesetze  

a) Zwangsunterbringung

Aus der vorstehend entwickelten, für die folgenden Betrachtungen zugrunde zu legenden Auffassung, dass eine Anknüpfung an die psychische Krankheit eine Freiheitsentziehung nicht rechtfertigen kann [134] , folgt: Soweit eine Freiheitsentziehung an eine psychische Krankheit anknüpft und/ oder ihrem Zweck nach über die Abwehr von Gefahren hinausgeht, ist die Freiheitsentziehung mit der BRK nicht vereinbar.  

Für die geltenden Psychisch-Kranken-Gesetze bedeutet dies, dass insbesondere das tatbestandliche Abstellen auf krankheitsbedingtes Verhalten [135] unzulässig wird. In der Sache wäre damit dem Sonderfreiheitsentziehungsregime der Psychisch-Kranken-Gesetze der Boden entzogen. Entsprechend sind die gesetzlichen Voraussetzungen von Freiheitsentziehungen bei sog. psychisch Kranken auf das schlichte Vorliegen einer Gefahr zurückzuführen. 

Die Schutzziele der Psychisch-Kranken-Gesetze - das Leben oder die Gesundheit sog. psychisch Kranker oder besonders bedeutender Rechtsgüter anderer (§ 8 Abs. 1 S. 1 PsychKG Bln) - sind damit als legitime Pflichtaufgaben des Staates [136] nicht in Frage gestellt. Mit der BRK ist auch nichts gegen die Legitimität von Gefahrenabwehr mittels Freiheitsentziehung als ultima ratio einzuwenden [137] und das Bereithalten von Hilfsangeboten, Betreuungsmöglichkeiten usw. auf freiwilliger Basis in keiner Weise eingeschränkt. Vielmehr erscheint solches nach Art. 25 BRK sogar besonders geboten. Allerdings findet der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum bei der Wahrnehmung von Schutzpflichten nach der hier zugrundegelegten Auslegung in der BRK eine Schranke insoweit, als Freiheitsentziehungen, die das Vorliegen einer Behinderung (hier: in Gestalt einer psychischen Erkrankung) voraussetzen, nicht zulässig sind. Das gesetzgeberische Ermessen zur Erreichung der Schutzziele des Psychisch-Kranken-Gesetze ist dadurch konventionssrechtlich beschränkt.  

b) Zwangsbehandlung

Soweit die Psychisch-Kranken-Gesetze eine - und sei es nur vorläufige - Zwangsbehandlung ermöglichen (etwa § 30 Abs. 2 S. 2 PsychKG Bln), ist auch diese gesetzliche Eingriffsbefugnis abzuschaffen [138] . Damit ist zugleich ein obligatorischer Behandlungsvollzug (§ 9 PsychKG Bln) unzulässig.  

Dies muss Auswirkungen auf das Unterbringungskonzept der Psychisch-Kranken-Gesetze haben. Unterbringungszwecke, welche neben der Gefahrenabwehr zugleich auf die Behandlung gegen den Willen der Betroffenen zielen, sind mit der BRK nicht zu vereinbaren. Dem Gesetzgeber steht es frei, die vorhandenen - auch in den Psychisch-Kranken-Gesetzen geregelten (etwa § 3 ff PsychKG Bln) - Hilfskonzepte umzugestalten. Mit der hier zugrundegelegten Interpretation der BRK kommen aber auch therapeutische und Erziehungszwecke nach den Psychisch-Kranken-Gesetzen [139] und Zwangsbehandlungen ohne den Willen der Betroffenen [140] auf den Prüfstand. 

c) Gestaltungsspielräume und Fürsorgepflichten des Gesetzgebers

Damit ist im Ergebnis das spezifische Zwangsregime der Psychisch-Kranken-Gesetze abzuschaffen. Der Gesetzgeber wäre angesichts nach der BRK bestehender Gesundheitsfürsorgepflichten gleichwohl gehalten, weniger eingriffsintensive Maßnahmen zu wählen und die freiwillige Behandlung sicherzustellen. Auch der Vollzug von Freiheitsentziehungen zu Gefahrenabwehrzwecken in geschlossenen Einrichtungen (§ 10 PsychKG Bln) ist, da die BRK über das Verbot von Zwangsbehandlung und -unterbringung hinaus keine Regelung über die Art und Weise von Gefahrenabwehr vorgibt, nicht von vornherein ausgeschlossen. Wohl aber ist ein Zwang zur Behandlung bzw. Teilnahme an vorbereitenden Maßnahmen (vgl. § 30 Abs. 1 S. 2 - 4 PsychKG Bln) unzulässig.  

d) konventionskonforme Auslegung als Übergangslösung und Regulativ

Solange und soweit es nicht zu einer Anpassung der Psychisch-Kranken-Gesetze an Art. 12 Abs. 2, 14 Abs. 1 S. 2 lit. b) BRK kommt, bleiben die mit der BRK nicht zu vereinbarenden gesetzlichen Vorschriften unverändert in Kraft. Völkerrechtliche Verträge erzwingen in Fällen, in denen das nationale (Gesetzes-) Recht zu ihnen im Widerspruch steht, eine völkerrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts, um einen Widerspruch von nationaler Rechtsordnung und völkerrechtlichen Verpflichtungen zu vermeiden [141] . Das nationale Recht ist dabei grundsätzlich so zu handhaben, dass Völkerrechtsverstöße nach Möglichkeit vermieden und beseitigt werden [142] .  

Diese Anpassungsleistung ist hinsichtlich der Zwangsbehandlung gegen den Willen der Betroffenen bspw. nach § 30 Abs. 2 S. 2 PsychKG Berlin dadurch vorweggenommen, dass Art. 12 Abs. 2 BRK als unmittelbar anwendbares Verbot der Durchführung einer Zwangsbehandlung ohne weiteren Umsetzungsakt des Gesetzgebers entgegensteht [143] . Die gesetzlichen Vorschriften zur Zwangsunterbringung hingegen sind nicht durch unmittelbar anwendbares Konventionsrecht direkt überwunden. Art. 14 Abs. 1 S. 2 lit. b) BRK fordert aber eine Auslegung dahingehend, dass ausschließlich eine Gefahrenlage eine Freiheitsentziehung rechtfertigen kann.  

 

4. Entgegenstehendes Verfassungsrecht?

Eine Anpassung des Systems der Zwangsunterbringung und -behandlung psychisch Kranker an die Vorgaben der BRK könnte sich dem Einwand aussetzen, im Ergebnis die verfassungsrechtlichen Schutzpflichten des Staates für die Betroffenen oder Dritte zu vernachlässigen. Es sei daher erörtert, ob Zwangsunterbringung und -behandlung im Sinne der geltenden Psychisch-Kranken-Gesetze von Verfassungs wegen unverzichtbar sind.  

a) Schutzpflichten für Rechtsgüter Dritter

Der Schutz Dritter vor Gefahren, die mit hoher Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts dem Leben, der körperlichen Unversehrtheit und anderen hochrangigen Rechtsgütern wie der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung drohen, stellt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein überragendes Gemeinwohlinteresse dar. Es ist danach eine Pflichtaufgabe des Staates, diesen Schutz durch geeignete Mittel zu gewährleisten [144] . Wie der Gesetzgeber diese Schutzaufgaben wahrnimmt, ist seinem weiten Gestaltungsermessen überlassen. Die Verfassung gibt den Schutz als Ziel vor, nicht aber seine Ausgestaltung im Einzelnen. Die Freiheitsentziehung ist dabei als legitimes Mittel dem Grunde nach von der Rechtsprechung anerkannt: Das Bundesverfassungsgericht kommt bei der Erörterung von Schutzpflichten zu dem Ergebnis, dass als Mittel zum Schutz von Leben, Unversehrtheit und Freiheit der Bürger demjenigen die Freiheit entzogen werden kann, von dem ein Angriff auf diese Schutzgüter zu erwarten ist. Dies ist auch vor dem Hintergrund der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) bei Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips verfassungsrechtlich legitim, wenn die Voraussetzungen und die Ausgestaltung der Freiheitsentziehung durch eine enge Bindung an den zu erfüllenden Schutzzweck streng begrenzt werden [145] .  

Der zuletzt am Beispiel der nachträglichen Sicherungsverwahrung von als hochgefährlich eingeschätzten Straftätern ausgebreiteten Argumentation des Bundesverfassungsgerichts [146] wird zuweilen verkürzend die Bezeichnung "Untermaßverbot" beigegeben [147] , welche die Erwartung weckt, dass es neben dem aus den Grundrechten und dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Übermaßverbot auch ein verfassungsrechtlich bestimmbares Mindestmaß an Eingriffsintensität geben könnte. Ungeachtet der von jener Entscheidung von dem Bundesverfassungsgerichts gezogenen Konsequenz, die nachträgliche Sicherheitsverwahrung aufgrund von kompetenzwidrig erlassenen Landesgesetzen für einen Übergangszeitraum im Interesse des Schutzes der Allgemeinheit vor bestimmten hochgefährlichen Straftätern hinzunehmen [148] , reicht auch diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht über die Bestimmung von Schutzzielen hinaus und gesteht dem Gesetzgeber beim Ausgleich kollidierender Grundrechtspositionen einen weiten Gestaltungsspielraum zu.  

Das Bundesverfassungsgericht hat sich zu dem von einer Strömung in der rechtswissenschaftlichen Literatur entwickelten sog. Untermaßverbot ausdrücklich nur in der zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch [149] bekannt. Diese entwickelt zunächst die seitdem mehrfach herangezogene Formel, dass der Staat hochwertige Rechtsgüter wie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit vor drohenden Gefahren zu schützen habe, Art und Umfang des Schutzes im Einzelnen zu bestimmen aber Aufgabe des Gesetzgebers seien [150] . Diese Argumentation ist in der zweiten Abtreibungsentscheidung durch die Bezugnahme auf ein in der Literatur so bezeichnetes Untermaßverbot ergänzt um die Feststellung, dass die Grundrechte einen - unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter - angemessenen und wirksamen Schutz hochwertiger Rechtsgüter verlangten. Die Vorkehrungen, die der Gesetzgeber trifft, müssten für einen angemessenen und wirksamen Schutz ausreichend sein und zudem auf sorgfältigen Tatsachenermittlungen und vertretbaren Einschätzungen beruhen, woraus sich Mindestanforderungen an den strafrechtlichen Schutz des ungeborenen Lebens ergäben [151] .  

Während die Formel vom grundsätzlichen Schutzbedürfnis gerade von Leben und körperliche Unversehrtheit einerseits und einem Ausgestaltungsauftrag an den Gesetzgeber andererseits seitdem mehrfach Wiederholung gefunden hat [152] , ist die direkte Bezugnahme der zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch auf das so genannten "Untermaßverbot" vereinzelt geblieben. Dies mit gutem Grund, denn der Schwangerschaftsabbruch ist auch verfassungsrechtlich eine Extremkonstellation, da er die Frage aufwirft, inwieweit der Staat einen als Tötung verstandenen Eingriff dem Willen Dritter überlassen darf. Ebenso wie etwa das Beispiel der landesgesetzlichen nachträglichen Sicherungsverwahrungen kann auch die Beurteilung der verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen an den Schutz vor Gefahren, die von psychisch Kranken ausgehen (sollen), an diese aus der Sicht des zu schützenden Rechtsguts finale Gefährdung nicht heranreichen. Das Untermaßverbot als Forderung nach einem im Interesse des bedrohten Rechtsguts auch nachweisbar praktisch wirksamen Schutz hat in seiner Tiefe auf einen Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber beschränkt zu bleiben, ohne eine Verschiebung der grundrechtlichen Gewichtung zwischen Betroffenen und Allgemeinheit zu ermöglichen.  

Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann mithin nicht darauf geschlossen werden, dass der Gesetzgeber beim Schutz der Allgemeinheit vor Gefahren, die von sog. psychisch Kranken ausgehen sollen, in seiner Gestaltungsfreiheit beschränkt wäre und auf Zwangsunterbringung oder -behandlung von Verfassungs wegen nicht verzichten dürfte, solange er effektiv Gefahrenabwehr betreiben kann. Dass sich aber die Abwehr von Gefahren, die von sog. psychisch Kranken ausgehen sollen, ausschließlich mit dem Mittel einer Zwangsunterbringung im Sinne einer über die Freiheitsentziehung hinausgehenden, fürsorgliche Ziele verfolgenden und eine Behandlung einschließenden Unterbringung erreichen ließen, ist nicht ersichtlich.  

b) Schutz der Betroffenen vor Selbstschädigung

Das Bundesverfassungsgericht hat sich zuletzt bei der Überprüfung der Unterbringung nach § 1631 b BGB [153] mit einer Freiheitsentziehung zwecks Abwehr von Schaden für die Betroffenen befasst. Die verfassungsrechtliche Betrachtung nimmt dabei ihren Ausgang mit der Feststellung, dass Freiheitsentziehungen stets einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterziehen sind. Dies schließe allerdings nicht von vornherein einen staatlichen Eingriff aus, der ausschließlich den Zweck verfolgt, einen psychisch Kranken vor sich selbst in Schutz zu nehmen und ihn zu seinem eigenen Wohl in einer geschlossenen Einrichtung unterzubringen. Die staatliche Fürsorge schließe die Befugnis ein, psychisch Kranke, die infolge des Krankheitszustandes und damit verbundener fehlender Einsichtsfähigkeit die Schwere ihrer Erkrankung und die Notwendigkeit von Behandlungsmaßnahmen nicht zu beurteilen vermögen oder sich trotz einer solchen Erkenntnis infolge der Krankheit nicht zu einer Behandlung entschließen, zwangsweise in einer geschlossenen Einrichtung unterzubringen, wenn sich dies als unumgänglich erweist, um die drohende gewichtige gesundheitliche Schädigung von dem Kranken abzuwenden, wenn sich die Unterbringung als verhältnismäßig erweist.  

Damit schließt sich das Bundesverfassungsgericht implizit der Auffassung von der fürsorglichen Zwecksetzung von Zwangsunterbringung und -behandlung an. Eine - mit der BRK kollidierende - Rechtspflicht zur zwangsweisen Besserung gegen den Willen der Betroffenen kann aus der von dem Bundesverfassungsgericht damit anerkannten Befugnis zum Schutze sog. psychisch Kranker vor krankheitsbedingt drohenden gewichtigen gesundheitlichen Schädigungen gegen einen bekundeten Willen nicht abgeleitet werden. Erweist es sich als mit der BRK unvereinbar, sog. psychisch Kranke zwangsweise zu behandeln [154] , ist die von dem Bundesverfassungsgericht als Fürsorge verstandene und als solche zugelassene Unterbringung aus konventionsrechtlichen Gründen unzulässig.

 Fortsetzung: Teil V


 

[119] siehe oben III. 3. b) dd) zur Zwangsunterbringung und III. 4. d) cc) zur Zwangsbehandlung

[121] BGBl. 1985 II, 927

[122] BVerfG, NJW 1994, 2207 (2211) m.w.N = BVerfGE 90, 269 ff

[123] vgl. auch Art. 4 Abs. 1 S. 2 lit. a), b) und d) BRK

[124] Str., zum Streitstand s. oben II.1.

[125] BVerfG, B.v. 15.02.2006, 2 BvR 1476/03, Abs. Nr. 21 = NJW 2006, 2542 (2543); BVerfG, B.v. 19.09.2006, 2 BvR 2115/01 u.a., Abs.Nr. 53 = NStZ 2007, 159 (160); Dahm/ Delbrück/ Wolfrum, Völkerrecht, 2. Aufl. Berlin 1989, § 9 Rn 192.

[126] vgl. auch oben III. 4. b)

[127] s. oben III. 4. a)

[128] s. oben III. 2.

[129] BVerfGE 96, 288 (301 ff); BVerfGE 99, 341 (357); BVerfG (Kammer), B.v.10.02.2006, 1 BvR 91/06, Abs. Nr. 13, 15 f = NVwZ 2006, 679 ff; zum Ganzen Osterloh in: Sachs (Hg), Grundgesetz, 4. Aufl. München 2007, Art. 3 Rn. 313, 315; zu der Bedeutung von Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG für kompensatorische Ungleichbehandlungen Starck in: v. Mangoldt/ Klein, Kommentar zum Grundgesetz, 5. Aufl. 2005, Art. 3 Abs. 3 Rn 419 f.

[130] s. oben III. 4. b) und Lachwitz, RdLh 1/07, S. 42

[131] s. oben III. 4. d) cc)

[132] s. oben III.3. b) dd)

[133] s. oben III. 3. b) dd) zu Art. 14 Abs. 1 S. 2 lit. b) BRK

[134] III. 3. b) dd) zu Art. 14 Abs. 1 S. 2 lit. b) BRK

[135] bspw. § 8 Abs. 1 PsychKG Bln

[136] BVerfG, U. v. 10.02.2004, 2 BvR 834/02, Abs. Nr. 164 = NJW 2004, 750 (757) (Nachträgliche Sicherungsverwahrung) unter Bezugnahme auf BVerfG NJW 1993, 1751 (1753) = BVerfGE 88, 203 (253 f.) (2. Abtreibungsentscheidung); BVerfG NZA 1995, 272 (275) = BVerfGE 92, 26 (46); BVerfGE 97, 169 (176 f))

[137] s. oben IV. 3. a)

[138] s. oben III. 4. d) cc)

[139] etwa § 28 Abs. 1 S. 3 PsychKG Bln

[140] § 30 Abs. 2 S. 2 PsychKG Bln

[141] BVerfGE 74, 358 (370)

[142] BVerfGE 58, 1 (34)

[143] s. soeben IV. 3. b)

[144] BVerfG, U. v. 10.02.2004, 2 BvR 834/02, Abs. Nr. 164 = NJW 2004, 750 (757) m.w.N.

[145] BVerfG, U. v. 10.02.2004, 2 BvR 834/02, Abs. Nr. 165= NJW 2004, 750 (757) m.w.N.

[146] BVerfG, U. v. 10.02.2004, 2 BvR 834/02, Abs. Nr. 164 = NJW 2004, 750 (757) m.w.N.

[147] vgl. etwa die abw. Meinung der Richterinnen und Richter Broß, Gerhard und Osterloh, BVerfG, U. v. 10.02.2004, 2 BvR 834/02, Abs. Nr. 192 = NJW 2004, 750 (759)

[148] BVerfG, U. v. 10.02.2004, 2 BvR 834/02, Abs. Nr. 172 = NJW 2004, 750 (757)

[149] BVerfG, NJW 1993, 1751 (1752 f.) = BVerfGE 88, 203 ff

[150] BVerfG, NJW 1993, 1751 (1752 f.) = BVerfGE 88, 203 ff

[151] BVerfG, NJW 1993, 1751 (1752 f.) = BVerfGE 88, 203 ff; ähnlich BVerfG, NZA 95, 272 (275) = BVerfGE 92, 26 ff

[152] BVerfG, U. v. 10.02.2004, 2 BvR 834/02, Abs. Nr. 164 = NJW 2004, 750 (757); BVerfG, NZA 1995, 272 (275) = BVerfGE 92, 26 (46); BVerfGE 97, 169 (176 f))

[153] BVerfG, B. v. 14.06.2007, 1 BvR 338/07, Abs. - Nr. 24 ff

[154] s. oben III. 4. d) cc)