Bundesarbeitsgemeinschaft
 Psychiatrie-
  Erfahrener e.V.

Bevormundung – Zwangsunterbringung – Folter 
 
Zur Lage von Behinderten im Lichte der Abschließenden Bemerkungen des UN-Komitees für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zum ersten Staatenbericht der Bundesrepublik zum Art. 12 der UN-Behindertenrechtskonvention  
von Prof. Eckhard Rohrmann
Einführende Bemerkungen zur UN-Behindertenrechtskonvention und der Überwachung ihrer nationalstaatlichen Einhaltung und Umsetzung  
 
Ende 2008 verabschiedeten die gesetzgebenden Organe des Bundes der Bundesrepublik Deutschland das Gesetz zur Ratifizierung des von der UN-Vollversammlung am 13. Dezember 2006 verabschiedeten Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, kurz UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Das Übereinkommen ist damit in Deutschland seit dem 26. März 2009 rechtsverbindlich.  

Bei dieser Konvention handelt es sich nicht um eine Art „Sondermenschenrechtsabkommen“ für Behinderte, als welche das Übereinkommen in der öffentlichen Diskussion zuweilen missverstanden wird, sondern, wie alle anderen Menschenrechtsabkommen der Vereinten Nationen auch (Zivilpakt, Sozialpakt, Anti-Rassismus-Konvention, Frauenrechtskonvention, Anti-Folterkonvention, Kinderrechtskonvention, Wanderarbeiterkonvention sowie die kurz nach der UN-BRK verabschiedete Konvention gegen Verschwindenlassen) um Konkretisierungen der am 10. Dezember 1948 von der UN-Vollversammlung verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

Die Umsetzung und Einhaltung all dieser internationalen Abkommen und so auch der UN-BRK wird durch einen internationalen, aus unabhängigen Expertinnen und Experten bestehenden und dem jeweiligen Abkommen zugeordneten Fachausschuss oder -komitee, im Falle der UN-BRK durch das Committee on the Rights of Persons with Disabilities (CRPD) überwacht1 (Art. 34 UN-BRK). Alle Staaten, die dieses Abkommen ratifiziert haben, verpflichten sich, erstmalig zwei Jahre nach Inkrafttreten des Abkommens im jeweiligen Mitgliedsstaat und dann alle vier Jahre einen Staatenbericht vorzulegen (Art. 35, Abs. 1 und 2 UN-BRK).
 
Der erste Staatenbericht für die Bundesrepublik zur UN-BRK wurde am 3. August 2011 vom Bundeskabinett verabschiedet und anschließend veröffentlicht und dem Komitee über den UN-Generalsekretär zugeleitet.
 
Nach der Vorlage der Staatenberichte haben Nichtregierungsorganisationen (NGO) Gelegenheit, zu den Berichten Stellung zu nehmen und Schatten- bzw. Parallelberichte vorzulegen. Auf der Grundlage der vorliegenden Berichte unternimmt das Komitee in öffentlicher Sitzung eine Überprüfung des jeweiligen Staatenberichtes. Diese erfolgte im Falle des deutschen Berichtes zur UN-BRK am 26. und 27 März 2015.

Zum Abschluss des Verfahrens veröffentlicht das Komitee sog. Abschließende Bemerkungen (Concluding Observations, CO) in denen es zu den Staatenberichten und zur Umsetzung der Konvention Stellung nimmt. Die CO zum ersten Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland zur UN-BRK hat das Komitee am 17. April 2015 vorgelegt2. Sie umfassen insgesamt elf Seiten. Sechs Zeilen dieses Dokuments sprechen positive Aspekte an, während auf zehn Seiten z. T. scharfe Kritiken an der bisherigen Umsetzung der Konvention in Deutschland geäußert und Empfehlungen zur Überwindung der identifizierten Missstände formuliert werden.
 
Art. 12 der UN-Behindertenrechtskonvention 
 
Die hier vorliegende Stellungnahme wird nicht auf alle Kritiken dieser Abschließenden Be-merkungen des CRPD eingehen, sondern sich auf die Ausführungen zur Umsetzung des Art. 12 sowie damit korrespondierender Artikel der UN-BRK konzentrieren. In Art. 12 bekräftigen
 
„die Vertragsstaaten ..., dass Menschen mit Behinderungen das Recht haben, überall als Rechtssubjekt anerkannt zu werden“ (Abs. 1), „anerkennen, dass Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen gleichberechtigt mit anderen Rechts- und Handlungsfähigkeit genießen“ (Abs. 2) und stellen sicher, dass „der Wille und die Präferenzen der betreffenden Person geachtet werden“ (Abs. 4, Hervorhebungen ER). 
 
Art. 12 der UN-BRK ist eine auch bereits in Art. 16 des Zivilpaktes der UN vorgenommene Konkretisierung des Art. 6 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN:
 
„Jeder hat das Recht, überall als rechtsfähig anerkannt zu werden“.  
 
Art. 12 der UN-BRK im Verständnis des Komitees für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 
 
Im Mai 2014 veröffentlichte das CRPD bereits einen General Comment (GC) zum Art. 12 der Konvention in dem klargestellt wird,  
 
„dass das menschenrechtsbasierte Modell von Behinderung den Wechsel vom Paradigma der ersetzenden Entscheidungsfindung3 zum Modell der unterstützten Entscheidungsfindung4 impliziert“ (CRPD 2014 I, Nr. 3; Hervorhebung ER), während in der Praxis vieler Länder bislang „Menschen mit Behinderungen in vielen Bereichen in diskriminierender Weise das Recht auf rechtliche Handlungsfähigkeit verwehrt (wird), und zwar durch das System der ersetzenden Entscheidungsfindung, wie beispielsweise bei einer Vormundschaft, rechtlicher Betreuung und bei Gesetzen zur psychischen Gesundheit, die eine Zwangsbehandlung zulassen. Diese Praktiken müssen abgeschafft werden, um sicherzustellen, dass die volle rechtliche Handlungsfähigkeit für Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen wiederhergestellt wird“ (CRDP 2014 I, Nr. 7).
 
Ausdrücklich weist das Komitee darauf hin,  
 
„dass ‚Geistesgestörtheit’ und andere diskriminierende Bezeichnungen kein legitimer Grund für die Versagung der rechtlichen Handlungsfähigkeit (rechtliche Rolle und Rechtsstellung im Verfahren) sind. Nach Artikel 12 sind wahrgenommene oder tatsächliche Defizite in der geistigen Fähigkeit keine Rechtfertigung für die Versagung der rechtlichen Handlungsfähigkeit“ (CRPD 2014 II, Nr. 13; Hervorhebung ER).  Für das Komitee ist das verbreitete „Konzept geistige Fähigkeit ... höchst umstritten. Entgegen den üblichen Darstellungen handelt es sich hier nicht um ein objektives, wissenschaftliches und naturgegebenes Phänomen. Geistige Fähigkeit hängt vom sozialen und politischen Kontext ab; dies gilt ebenso für die Fachbereiche, Berufe und Praktiken, die bei der Beurteilung geistiger Fähigkeit eine beherrschende Rolle spielen“ (CRPD 2014 II, Nr. 14, Hervorhebung ER).
 
Das Komitee hat 
 
„in der Mehrzahl der Berichte der Vertragsstaaten, die der Ausschuss bisher untersucht hat“, festgestellt, dass in unzulässiger Weise „die Begriffe geistige und rechtliche Fähigkeit verschmolzen (werden), sodass Personen, deren Fähigkeiten, Entscheidungen zu treffen, zumeist aufgrund einer kognitiven oder psychosozialen Behinderung vermeintlich beeinträchtigt sind, die Rechtsfähigkeit, eine bestimmte Entscheidung zu treffen, in der Folge entzogen wird. Dies wird einfach entschieden auf Grundlage der Diagnose einer Beeinträchtigung (Status-Ansatz) oder wenn eine Person eine Entscheidung mit vermeintlich negativen Auswirkungen trifft (Ergebnis-Ansatz) oder wenn die Fähigkeiten einer Person, Entscheidungen zu treffen, als mangelhaft betrachtet werden (funktionaler Ansatz). Der funktionale Ansatz versucht, geistige Fähigkeit zu bewerten und rechtliche Handlungsfähigkeit dementsprechend zu versagen. Er stützt sich häufig darauf, ob die betreffende Person die Art und die Folgen einer Entscheidung erfassen kann beziehungsweise ob sie mit den entsprechenden Informationen umgehen und sie abwägen kann.

Dieser funktionale Ansatz ist aus zweierlei Gründen mangelhaft: a) weil er in diskriminierender Weise auf Menschen mit Behinderungen angewandt wird, und b) weil er vorgibt, die inneren Abläufe des menschlichen Geistes genau beurteilen zu können und ein zentrales Menschenrecht – das Recht auf gleiche Anerkennung vor dem Recht – versagt, wenn jemand den Begutachtungstest nicht besteht. Bei all diesen Ansätzen wird die Behinderung eines Menschen und/oder seine Entscheidungsfähigkeit als legitime Basis genommen, die rechtliche Handlungsfähigkeit zu versagen und ihren Status als Rechtssubjekt zu verringern. Artikel 12 lässt eine solche diskriminierende Versagung der rechtlichen Handlungsfähigkeit nicht zu, sondern verlangt vielmehr Unterstützung bei ihrer Ausübung“ (CRDP 2014 II, Nr. 15, Hervorhebung ER),
 
Von Ausnahmen im Sinne einer ultima ratio ist hier und auch an keiner anderen Stelle je die Rede.
 
 
Zur Lage in Deutschland 
 
Am 1. Januar 1992 trat in Deutschland das neue Betreuungsrecht in Kraft. An die Stelle der noch aus dem Kaiserreich stammenden und vor allem auf den Entzug elementarer Bürgerrechte ausgerichteten Entmündigung sowie der primär ordnungsrechtlich konzipierten Instrumente Gebrechlichkeitspflegschaft und vor allem Vormundschaft für Volljährige trat das einheitliche, primär auf den Schutz der Betroffenen statt auf deren Entrechtung abzielende Rechtsinstitut der Betreuung. In der Praxis wurde aber gerade diese Intention nur unzureichend umgesetzt. Auch seit der Reform können Betreuerinnen oder Betreuer gegen den Willen der Betroffenen bestellt werden. Mindestens in diesen Fällen entspricht die Betreuerbestellung einer faktischen Entmündigung und die Betreuungsverhältnisse haben den gleichen bevormundenden Charakter, wie zuvor die überkommenen Vormundschaften.

Seit Inkrafttreten des neuen Betreuungsrechts ist die Zahl der Betreuungen ausweislich der von Horst Deinert aufbereiteten Statistiken des Bundesjustizministeriums sowie des statistischen Bundesamtes5 bis 2012 von ca. 436.000 kontinuierlich auf über 1,3 Mio. angestiegen. Seither verharrt sie etwa auf diesem Niveau. Weder das 1998 verabschiedete Betreuungsrechtsänderungsgesetz, noch das zweite Betreuungsrechtsänderungsgesetz von 2004 haben hier bislang zu einer grundlegenden Trendwende geführt. Durch letzteres wurde auf Initiative des Bundesrates im § 1896 BGB ein Abs. 1a mit folgendem Wortlaut einzugefügt:

„Gegen den freien Willen des Volljährigen darf ein Betreuer nicht bestellt werden“.  

Auf den ersten Blick scheint damit der vom CRPD geforderte Wechsel vom Paradigma der ersetzenden zum Modell der unterstützten Entscheidungsfindung schon damals eingelöst worden zu sein. Ein Blick in die Begründung für den Entwurf dieser Gesetzesänderung macht jedoch deutlich, dass dies keineswegs der Fall ist. Dort wird nämlich spitzfindig unterschieden zwischen dem sog. „freien Willen“ und dem „natürlichen Willen“ und nur, wer über einen freien und nicht nur natürlichen Willen verfügt, sollte sich künftig der zwangsweisen Bestellung einer Betreuung erwehren können.
 
Was ist ein freier Wille? 
 
Wann aber ist ein Wille frei und wann nur natürlich? Die Begründung für das zweite Betreuungsrechtsänderungsgesetz nennt als „die beiden entscheidenden Kriterien“ für das Vorliegen eines freien Willens 
 
„die Einsichtsfähigkeit des Betroffenen und dessen Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln. Fehlt es an einem dieser beiden Elemente, liegt kein freier, sondern ein natürlicher Wille vor“ (Bundestags-Drucksache 15/2494, S. 28)
 
und gegen diesen nur natürlichen Willen kann auch weiterhin eine Betreuung angeordnet werden. Mit dieser Einschränkung blieb es aber faktisch bei der bisherigen und vom CRPD als mit der UN-BRK sowie mit den Allgemeinen Menschenrechten unvereinbaren Rechtslage, die nach wie vor ersetzende Entscheidungsfindungen zulässt.

Dazu kommt: Zu Recht weist, wie schon erwähnt, das CRPD in seinem GC darauf hin, dass geistige Fähigkeit ein soziales Konstrukt ist und „vom sozialen und politischen Kontext“ (CRPD 2014 II, Nr. 14) abhängt. Dies gilt in gleichem Maße auch für die dichotome Vorstellung vom freien Willen auf der einen und dem unfreien, nur natürlichen Willen auf der ande-ren Seite. Jeder menschliche Wille äußert sich stets unter bestimmten kulturhistorischen, sozi-alen, infrastrukturellen, institutionellen, psychischen, biologischen und anderen Bedingungen, welche sich teilweise sogar wechselseitig bedingen und auf jede subjektive Willensentscheidung mehr oder weniger Einfluss nehmen. Die Freiheitsgrade jeglicher Willensentscheidungen variieren damit innerhalb eines Kontinuums, das sich ausspannt zwischen den Extremen „absolut freier Wille“ und „absolut unfreier Wille“, wobei beide Extreme lediglich theoretische Konstrukte sind, da Menschen als bio-psycho-soziale Wesen tendenziell einerseits immer unter spezifischen Bedingungen handeln, von denen sie bestimmt werden, dabei andererseits immer auch handelnde Subjekte ihres Lebens sind, und zwar solange sie leben.

Damit konkretisiert sich die oben aufgeworfene Frage, wann ein Wille frei ist. Eine sinnvolle Antwort auf diese Frage kann letztlich nur darauf hinaus laufen, innerhalb des skizzierten Kontinuums irgend eine Maßeinheit festzulegen, von der an ein geäußerter Wille, wie auch immer er gemessen wird6, als frei oder als nicht mehr frei, sondern nur noch natürlich angesehen wird und bei der Bestellung einer Betreuerin oder eines Betreuers missachtet werden darf. Eine solche Differenzierung bleibt letztlich willkürlich und zementiert weiterhin die Möglichkeit für vom CRPD als menschenrechtswidrig bezeichnete ersetzende Entscheidungsfindungen, wie das Komitee in seinen Abschließenden Bemerkungen (CO) zum ersten Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland zur UN-BRK feststellt. Unmissverständlich haben sich die Vertragsstaaten in Art. 12. Abs. 4 der UN-BRK, wie schon zitiert, dazu verpflichtet, sicherzustellen, dass
 
„der Wille und die Präferenzen der betreffenden Person geachtet werden“ (Abs. 4, Hervorhebung ER), 

ohne jede Einschränkung. Völlig zu Recht beklagt daher das Komitee in seinen Ausführungen zur Umsetzung des Art. 12 UN-BRK in Deutschland 

 
„die Unvereinbarkeit des im deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) festgelegten und geregelten Instruments der rechtlichen Betreuung mit dem Übereinkommen“ und empfiehlt,  „alle Formen der ersetzten Entscheidung abzuschaffen7 und ein System der unterstützten Entscheidung an ihre Stelle treten zu lassen“ (CRPD 2015, Nr. 25, 26; Hervorhebung ER).  
 
Dazu kommt: Sind Betroffene erst einmal gegen ihren erklärten, aber als nicht frei klassifi-zierten Willen auf dem Wege einer ersetzenden Entscheidung einer gesetzliche Betreuung unterworfen worden, sind weitere ersetzende und sogar mit Freiheitsentziehung verbundene Entscheidungen z. B. auf der Grundlage des § 1906, Abs. 1 BGB möglich. Dieser lautet:
 

„Eine Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, ist nur zulässig, solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil 
    1. auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt, oder 
    2. zur Abwendung eines drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadens eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff notwendig ist, ohne die Unterbringung des Betreuten nicht durchgeführt werden kann und der Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der Unterbringung nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann“ (Hervorhebungen ER).  
Nach § 1906, Abs. 2 bedarf es für solche freiheitsentziehenden Maßnahmen der Genehmigung des Betreuungsgerichtes. Was dem „Wohl des Betreuten“ entspricht und was nicht, bzw. genauer: was andere dafür halten, wird auch in diesen Fällen in der Regel ersetzend und nicht unterstützend entschieden, was einen weiteren Verstoß gegen den hier zu erörternden Artikel 12 der UN-BRK darstellt, wie das CRPD in seinem GC unmissverständlich klarstellt:

„Alle Formen der Unterstützung bei der Ausübung der rechtlichen Handlungsfähigkeit (einschließlich intensiverer Formen der Unterstützung) müssen auf dem Willen und den Präferenzen der betroffenen Person beruhen und nicht auf dem, was für ihr objektives Wohl erachtet wird“ (CRPD 2014, Nr. 29b; Hervorhebung ER),
 
von wem auch immer. Der § 1906, Abs. 1 BGB verstößt darüber hinaus nicht nur gegen Art. 12, sondern zugleich auch gegen Art. 14, Abs. 1 UN-BRK, wie das Komitee ebenfalls bereits im GC klargestellt hat:
 
„Die Versagung der rechtlichen Handlungsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen und die Unterbringung gegen ihren Willen in Einrichtungen, entweder ohne ihre Einwilligung oder mit Zustimmung einer Vertretung, sind ein dauerhaftes Problem. Diese Praxis stellt einen willkürlichen Entzug der Freiheit dar und verstößt gegen Artikel 12 und 14 des Übereinkommens“ (a.a.O., Nr. 40).

Art. 14 UN-BRK lautet: 

„Die Vertragsstaaten gewährleisten,
a) dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen das Recht auf Freiheit und Sicherheit ihrer Person genießen; 
b) dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen die Freiheit nicht rechtswidrig oder willkürlich entzogen wird ... und dass das Vorliegen einer Behinderung in keinem Fall eine Freiheitsentziehung rechtfertigt“ (Hervorhebung ER). 
 
Wie zu erwarten war, hat sich das Komitee in seinen CO auch bezogen auf die Praxis in Deutschland besorgt gezeigt  

„über die verbreitete Praxis der Zwangsunterbringung von Menschen mit psychosozialen Behinderungen in Einrichtungen, den mangelnden Schutz ihrer Privatsphäre und den Mangel an verfügbaren Daten über ihre Situation“ (CRPD 2015, Nr. 29).
 
Nur am Rande sei erwähnt, dass solche Zwangsunterbringungen nicht nur auf der Grundlage des BGB möglich sind, sondern ebenso nach den Psychisch-Kranken-Gesetzen (PsychKG) oder vergleichbaren Gesetzen der Bundesländer, die damit ebenfalls gegen die Art. 12 und 14 der UN-BRK verstoßen.
 
Doch damit nicht genug: Ist es erst einmal zu einer freiheitsentziehenden Zwangsunterbrin-gung nach § 1906, Abs. 1 BGB gekommen, können die Betroffenen nach § 1906, Abs. 4 noch weiteren Zwangsmaßnahmen gegen ihren erklärten Willen unterworfen werden. Dort heißt es:
 
„Die Absätze 1 und 2 gelten entsprechend, wenn dem Betreuten, der sich in einer Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung aufhält, ohne untergebracht zu sein, durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig die Freiheit entzogen werden soll“.
 
An dieser Stelle erscheint es angezeigt, den Blick auch auf die Stellungnahme des CRPD zur Lage in Deutschland im Hinblick auf den Art. 15 der UN-BRK (Freiheit von Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe) zu richten. Hier zeigt sich das Komitee
 
„tief besorgt darüber, dass der Vertragsstaat (die Bundesrepublik Deutschland, ER) die Verwendung körperlicher und chemischer Freiheitseinschränkungen, die Absonderung und andere schädliche Praktiken nicht als Folterhandlungen anerkennt. Er ist fernerhin besorgt über die Verwendung körperlicher und chemischer Freiheitseinschränkungen, insbesondere bei Personen mit psychosozialen Behinderungen in Einrichtungen und älteren Menschen in Pflegeheimen“ (CRPD 2015, Nr. 33)
 
Wir können also zusammenfassend festhalten: In den Augen des CRPD werden in Deutschland Menschen gegen ihren Willen durch ersetzende Entscheidungen von Gerichten
  • gegen ihren Willen unter Betreuung, das bedeutet in diesen Fällen unter faktische Vormundschaft ihrer Betreuerinnen und Betreuern gestellt8 und damit entrechtet, 
  • auf Grund einer vermeintlichen psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung freiheitsentziehenden Maßnahmen unterworfen und dabei teilweise9  
  • Praktiken ausgesetzt, die als Folter zu charakterisieren sind10
 
Konsequenzen 
 
Empfehlungen des UN-Komitees für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 
 
Vor dem Hintergrund dieses Befundes empfiehlt das CRPD – und zwar ausdrücklich in dieser Reihenfolge – 
 
„dem Vertragsstaat (der Bundesrepublik Deutschland, ER) 
a) im Hinblick auf den General Comment Nr. 1 (CRPD 2014) des Ausschusses alle11 Formen der ersetzten Entscheidung abzuschaffen und ein System der unterstützten Entscheidung an ihre Stelle treten zu lassen; 
b) professionelle Qualitätsnormen für Mechanismen der unterstützten Entscheidung12 zu entwickeln; 
c) in enger Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderungen auf Bundes-, Länder- und Kommunalebene für alle Akteure, einschließlich öffentliche Bedienstete, Richter, Sozialarbeiter, Fachkräfte im Gesundheits- und Sozialbereich, und für die umfassendere Gemeinschaft Schulungen zu Artikel 12 des Übereinkommens bereitzustellen, die dem General Comment Nr. 1 entsprechen“ (CRPD 2015, Nr. 26, Hervorhebungen ER). 
 
Es empfiehlt der Bundesrepublik Deutschland darüber hinaus 
 
„alle unmittelbar notwendigen gesetzgeberischen, administrativen und gerichtlichen Maßnahmen zu ergreifen, um Zwangsunterbringung durch Rechtsänderungen zu verbieten, und mit den Übereinkommens-Artikeln 14, 19 und 22 übereinstimmende alternative Maßnahmen zu fördern“ (CRPD 2015, Nr. 30, 30a) sowie 
„die Verwendung körperlicher und chemischer Freiheitseinschränkungen in der Altenpflege und in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen zu verbieten“ (a.a.O., Nr. 34b; Hervorhebungen ER). 
 
Ausdrücklich empfiehlt das Komitee in beiden Fällen ein striktes Verbot und nicht etwa bloß die Vermeidung, Reduzierung oder dergleichen Unverbindliches. Zudem wird die Bundesrepublik aufgefordert, eine Entschädigung der bisherigen Opfer dieser als Folter charakterisierten Praktiken in Erwägung zu ziehen (a.a.O., Nr. 34c).
 
Fachöffentliche Reaktionen in Deutschland 
 
Verfolgt man nun allerdings die fachöffentlichen Reaktionen der verantwortlichen Stellen in Deutschland auf das GC und den CO des CRPD, so drängt sich der Eindruck auf, als habe man die Abschließenden Bemerkungen sowohl in ihrer Kritik an den Zuständen in Deutschland als auch in ihren Empfehlungen gründlich missverstanden oder wolle sie bewusst missverstehen.
 
Schon 2014 hat sich der Betreuungsgerichtstag (BGT) mit einem Positionspapier zum GC des CRPD (2014) zu Wort gemeldet, in dem u. a. konstatiert wird: 
 
„Art. 12 UN-BRK will den Vorrang der Unterstützung bei der Ausübung der Handlungsfähigkeit vor einer ersetzenden Entscheidung, die – sollte sie notwendig werden – einer besonderen Rechtfertigung bedarf“ (BGT 2014, S. 1),
 
was klar im Widerspruch zum Wortlaut des Art. 12 UN-BRK steht, der eine solche Hintertür gerade nicht offenhält, was das CRPD in seinem GC (CRPD) deutlich und unmissverständlich bekräftigt hat: Es geht nicht um den Vorrang unterstützender vor ersetzender Entscheidungsfindung, sondern um das strikte Verbot ersetzender Entscheidungsfindungen.
 
Der Bundesverband der Berufsbetreuer/innen (BdB) veröffentliche als Reaktion auf die CO ein Positionspapier, in dem er seine schon früher erhobene Forderung bekräftigte,  
 
„die ‚rechtliche’ Betreuung als ein selbstständiges Fachgebiet der Sozialen Arbeit anzuerkennen und die justiz-lastige Konzeption einer verwaltenden und vertretungszentrierten Betreuung, die den Leitideen der großen Reform von 1992 widerspricht, zu überwinden“ (BdB 2015a, S. 1). Der Verband „widerspricht ... einer einseitigen Darstellung von Betreuung als Instrument ersetzender Entscheidungsfindung“ (a.a.O., S. 3),
 
was allerdings auch niemand in dieser Pauschalität behauptet hat. Mit der UN-BRK unvereinbar ist aber, dass die bestehenden Rechtsvorschriften die Möglichkeit der Bestellung eines Betreuers oder einer Betreuerin gegen den Willen der Betroffenen überhaupt zulassen. Nichts anderes hat das CRPD festgestellt. Für den BdB liegt das Problem aber nicht im Betreuungsrecht, sondern woanders:
 
„Nach Auffassung des BdB besteht keine generelle Unvereinbarkeit zwischen Betreuungsrecht und den Vorgaben der UN-BRK. Dennoch vertreten wir die Auffassung, dass die Betreuungspraxis und ihre Rahmenbedingungen (zu denen auch die gesetzlichen Grundlagen zählen) erhebliche Mängel aufweisen, die nur durch substantielle Veränderungen beseitigt werden können“ (ebd.).
 
Der Verband fordert als Konsequenz aus den Ausführungen des CRPD, sofort „angemessene Stundenpauschalen ein(zu)führen“ (BdB 2015b, S. 7) und die „Vergütung (zu) erhöhen“ (ebd.) und darüber hinaus u. a. die Einführung von Qualitätsstandards und einer Fachaufsicht sowie die Einführung von Qualifikationskriterien für die Zulassung zum gesetzlichen Betreuer oder zur gesetzlichen Betreuerin, denn, so die Begründung,
 
„eine Situation, in der unqualifizierte Personen u. a. über Zwangsmaßnahmen entscheiden können bzw. müssen ist sehr bedenklich“ (BdB 2015a, S. 4), 
 
Über die Bedenklichkeit und Menschenrechtswidrigkeit von Zwangsmaßnahmen in Fällen, in denen solche Maßnahmen durch hierfür qualifizierte Personen durchgeführt werden, wird an dieser Stelle nicht weiter nachgedacht, auch nicht, worin eine solche Qualifizierung bestehen soll. Zwangsmaßnahmen sollen nach Auffassung der Berufsbetreuer/innen zwar auf Ausnahmen beschränkt bleiben, grundsätzlich aber beibehalten werden.
 
Der Bund deutscher Rechtspfleger (BDR) hat in einem offenen Brief an den Bundesjustizminister 
 
„mit Erstaunen ... die kritische Stellungnahme des UN-Fachausschusses zum deutschen Betreuungsrecht zur Kenntnis genommen“. Er geht „davon aus, dass hier übersetzungsbedingte Missverständnisse vorliegen, insbesondere ist der Begriff der ‚gesetzlichen Vertretung’ im Sinne eines Instrumentes nicht verständlich zu machen“ und empfiehlt u. a. eine Änderung der Begriffe. „Anstelle der Bestellung des rechtlichen Betreuers als ‚gesetzlicher Vertreter’ könnte auch sprachlich mit derselben Wirkung die ‚Beiordnung’ eines Betreuers normiert sein“ (BDR 2015, S. 92),
 
so als ob durch eine schlichte sprachliche Umbenennung das Problem der vom CRPD monierten ersetzenden Entscheidungsfindung aus der Welt zu schaffen wäre. Das Bundesjustizministerium reagierte auf die Vorlage der CO mit der Ausschreibung zweier Forschungsprojekte. In dem einen Projekt soll die

„Umsetzung des Erforderlichkeitsgrundsatzes in der betreuungsrechtlichen Praxis im Hinblick auf vorgelagerte ‚andere Hilfen’ unter besonderer Berücksichtigung des am 1.7.2014 in Kraft getretenen Gesetzes zur Stärkung der Funktionen der Betreuungsbehörde“13
 
untersucht werden, d. h. die Wirkungsweise und Wirksamkeit solcher der Betreuung vorgelagerten sog. „anderer Hilfen“, durch die die Einrichtung einer Betreuung möglicherweise entbehrlich wird, das andere Projekt soll sich dem Thema „Qualität der rechtlichen Betreuung“ widmen. Hier sollen

„empirische Erkenntnisse darüber gewonnen werden, welche Qualitätsstandards in der Praxis eingehalten werden bzw. ob und ggf. welche strukturellen (einzelfallunabhängigen) Qualitätsdefizite insbesondere in der beruflichen aber auch in der ehrenamtlichen Betreuung bestehen und auf welche Ursachen diese ggf. zurückgeführt werden können“. 
 
Insbesondere soll dabei herausgefunden werden, ob und inwieweit Betreuungspersonen für ihre Aufgabe geeignet sind und wie dies überprüft wird. Hier soll u. a. untersucht werden,

„auf welchem Wege in einem standardisierten Verfahren die Qualität der Betreuung fortlaufend kontrolliert und damit gesichert wird oder gesichert werden könnte“14
 
Welche Konsequenzen das Justizministerium aus den klaren Empfehlungen des CRPD,
  • z. B. das Betreuungsrecht so zu ändern, das ersetzende Entscheidungsfindungen grundsätzlich nicht mehr zulässig sind oder etwa  
  • den Opfern der als Folter im Sinne des Art. 15 UN-BRK charakterisierten Praktiken eine Entschädigung zukommen zu lassen, wird aus den öffentlichen Reaktionen des Ministeriums nicht ersichtlich.
Fasst man die dargelegten Reaktionen auf die CO des CRPD zum Art. 12 der UN-BRK zusammen, so kann man feststellen, dass auf die vom Komitee festgestellte 
 
„Unvereinbarkeit des im deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) festgelegten und geregelten Instruments der rechtlichen Betreuung mit dem Übereinkommen“ und die dringende Empfehlung, „alle Formen der ersetzten Entscheidung abzuschaffen und ein System der unterstützten Entscheidung an ihre Stelle treten zu lassen“ (CRPD 2015, Nr. 25, 26)

entweder gar nicht oder aber zurückhaltend bis ablehnend eingegangen wird und der Fokus stattdessen vor allem auf die Qualität der Betreuung und dabei insbesondere auf die Qualifikation der Betreuerinnen und Betreuer gerichtet. Damit aber wird das Pferd gewissermaßen vom Schwanz her aufgezäumt. Ohne eine Veränderung der entsprechenden Rechtsnormen im Bürgerlichen Gesetzbuch, welche auch ersetzende Entscheidungsfindungen zum vermeintlichen Wohle aber gegen den Willen der Betroffenen vorsehen, bleibt es bei der Unvereinbarkeit dieser Rechtsnormen mit Art. 12 der UN-BRK und damit auch mit Art. 6 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Daran ändern weder neue Verfahren der Qualitätssicherung, noch Standards für die Qualifikation oder eine weitere Professionalisierung von Betreuerinnen und Betreuern irgend etwas. Qualifikation oder Professionalität stellen ja keine Werte an sich dar.

Sie gewährleisten auch keineswegs per se Qualität – was auch immer jeweils darunter verstanden wird. Es kommt auf die Inhalte und die Rahmenbedingungen an, für die bzw. unter denen professionell durch qualifizierte Expertinnen und Experten gehandelt wird, gerade, wenn es um soziale Dienstleistungen geht. Vor „Entmündigung durch Experten“ warnten schon 1979 Ivan Illich u. a. (1979) im Rahmen der damaligen Professionalisierungsdebatte. Christian Marzahn (1979, S. 82) charakterisierte seinerzeit „die Professionalisierung der Sozialpädagogik als Prozess der Enteignung sozialer Problemlösungskompetenzen“ welche dabei „von den Betroffenen auf die Sozialpädagogen – nebst anderen professionellen Problemlösern –“ übergingen und dort monopolisiert würden.

Auch wenn die Professionalisierungsdebatte heute nicht mehr in der Heftigkeit wie damals geführt wird, so hat sie doch nichts an Aktualität verloren. Dabei sprechen Illich u. a. sowie Marzahn „nur“ von der faktischen Entmündigung durch Expertentum. Wenn also Menschen, die bereits formalrechtlich gegen ihren erklärten Willen unter die Betreuung solcherart professionalisierter Expertinnen oder Experten gestellt werden, bliebe die vom CRPD kritisierte Unvereinbarkeit der Rechtslage in Deutschland mit der UN-BRK nicht nur ungelöst, es bestünde sogar die Gefahr der Verschärfung der entmündigenden Strukturen. Zwar empfiehlt auch das Komitee die Einführung von professionellen Qualitätsnormen und entsprechenden Schulungen für die beteiligten Akteure. Dies allerdings ausschließlich im Hinblick auf unterstützende Entscheidungsfindungen. An allererster Stelle steht daher die Empfehlung zu einer entsprechenden Korrektur der Rechtsnormen und ihrer Anpassung an die Standards der Menschenrechte.
 
Selbstverständlich ist nicht zu bestreiten, dass Menschen manchmal Entscheidungen treffen, die ihren Angehörigen und damit konfrontierten Fachleuten unsinnig und hinsichtlich der antizipierten Konsequenzen nicht verantwortbar und dem Wohl der Betroffenen widersprechend erscheinen und ihnen unter Umständen erhebliche Probleme bereiten. Das kann jedoch keine Rechtfertigung für eine Verletzung der Menschenrechte sein.

Solche Probleme müssen verantwortlich bewältigt werden, wobei allerdings, wie das CRPD unmissverständlich und zu Recht anmahnt, stets die menschenrechtlichen Standards einzuhalten sind. Das bedeutet u. a., dass sich Entscheidungen nicht als ersetzende an einem von außen definierten mutmaßlichen Wohl zu orientieren haben, sondern als unterstützende am explizit geäußerten Willen der Betroffenen. Verantwortliche Bewältigungsstrategien müssen, aber sie können auch nur, im jeweiligen Einzelfall und nur unter strikter Beachtung menschenrechtlicher Standards gefunden werden.

Ausnahmen von diesem Grundsatz sieht die UN-BRK nicht vor, wie das CRPD zu Recht immer wieder betont, auch nicht als sog. „ultima ratio“. Solange diese Grundsätze in den einschlägigen Vorschriften der betreuungsrechtlichen Regelungen des BGB nicht konsequent umgesetzt werden, bleiben alle anderen Maßnahmen Makulatur. Es bleibt das Risiko bestehen, dass adäquate und menschenrechtskonforme Lösungen nicht gesucht und folglich auch nicht gefunden, sondern die Probleme lediglich geregelt und das bedeutet in vielen Fällen durch menschenrechtswidrige Zwangsmaßnahmen entsorgt werden.
 
Ergänzungen im Juni 2017 
 
Das vom Bundesjustizministerium als Reaktion auf die Ausführungen des CRDP in seinen Abschließenden Bemerkungen zum 1. Staatenbericht der Bundesrepublik über die Umsetzung der UN-BRK ausgeschriebenen Forschungsvorhaben zum Thema „Qualität der rechtlichen Betreuung“ (siehe Fußnote 14 meiner Stellungnahme) wurde zwischenzeitlich an das Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik GmbH (ISG) in Köln vergeben. Dieses hat mittlerweile zwei Zwischenberichte über die jeweils bis zur Veröffentlichung vorgenommenen Forschungsschritte und deren Ergebnisse vorgelegt (ISG 2016; ISG 2017). Einige Aspekte dieser Berichte sollen in diesen ergänzenden Anmerkungen zu meiner vorangegangenen Stellungnahme kommentiert werden. 
 
Wie angesichts des an der eigentlichen Problemstellung vorbeigehenden Forschungsauftrages kaum anders zu erwarten, wurde auf die vom Komitee festgestellte 

„Unvereinbarkeit des im deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) festgelegten und geregelten Instruments der rechtlichen Betreuung mit dem Übereinkommen“ und die dringende Empfehlung, „alle Formen der ersetzten Entscheidung abzuschaffen und ein System der unterstützten Entscheidung an ihre Stelle treten zu lassen“ (CRPD 2015, Nr. 25, 26) 

nicht eingegangen. Vielmehr konstatieren die Auftragnehmer des Projektes ganz im Sinne ihres Auftraggebers: 
 
„Die Achtung des Willens und der Selbstbestimmung der betreuten Person wurde in Deutschland mit Einführung des Betreuungsrechts 1992 verpflichtendes und zentrales Element“ (ISG 2017, S. 2),  
 
denn, so heißt es schon im 1. Zwischenbericht: 
 
„Ein freier Wille (sei er aktuell oder früher geäußert) des Betreuten ist stets zu beachten, auch hat der Betreuer den Wünschen zu entsprechen, sofern diese dem Wohl des Betreuten nicht zuwiderlaufen“ (ISG 2016, S. 15, Hervorhebung ER). 
 
Genau hier aber liegt der zentrale Dissens zwischen den Auffassungen des Auftragsgebers der vorliegenden Studie, welche sich der Auftraggeber zu eigen gemachen hat, auf der einen und des UN-CRDP auf der anderen Seite, das bereits in seinem General Comment zu Art. 12 der UN-BRK unmissverständlich klargestellt hat: 
 
„Alle Formen der Unterstützung bei der Ausübung der rechtlichen Handlungsfähigkeit (einschließlich intensiverer Formen der Unterstützung) müssen auf dem Willen und den Präferenzen der betroffenen Person beruhen und nicht auf dem, was für ihr objektives Wohl erachtet wird“ (CRDP 2014, Nr. 29b, Hervorhebung ER). 
 
Das soll an dieser Stelle nicht erneut vertieft werden. Hierzu wird auf die Ausführungen der voranstehenden Stellungnahme verwiesen. Diese Ergänzungen enthalten  
  1. kritische Anmerkungen zur Anlage der bisher vorliegenden Untersuchungen und 
  2. die Herausstellung eines bemerkenswerten, im zweiten Zwischenbericht dokumentierten Ergebnisses, welches die kritischen Äußerungen des UN-CRDP in seinen Abschließenden Bemerkungen in bedrückender Weise bestätigt, in seiner Tragweite allerdings nicht wirklich gewürdigt wird. 
Ad 1: Anlage der bisher vorliegenden Untersuchungen 
 
In der Ausschreibung wird das Ziel des genannten Forschungsvorhabens wie folgt beschrieben: 
 
„Durch das Forschungsvorhaben sollen empirische Erkenntnisse darüber gewonnen werden, welche Qualitätsstandards in der Praxis eingehalten werden bzw. ob und ggf. welche strukturellen (einzelfallunabhängigen) Qualitätsdefizite insbesondere in der beruflichen aber auch in der ehrenamtlichen Betreuung bestehen und auf welche Ursachen diese ggf. zurückgeführt werden können ... Zentrale Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Frage der Geeignetheit der Betreuerinnen und Betreuer zu“15
 
Hinsichtlich der Methodik wird an 
 
„breit angelegte(.) Befragungen der beteiligten Kreise (Betreute, Angehörige, Einrichtungsmitarbeiter und -mitarbeiterinnen, Betreuungsrichter und -richterinnen, Rechtspfleger und -pflegerinnen, Betreuungsbehörden und Betreuungsvereine)16  
 
gedacht. Bislang befragt wurden allerdings nur Berufsbetreuer(innen), ehrenamtlichen Betreuer(innen), Betreuungsgerichte (Gerichtsverwaltung, Richter[innen], Rechtspfleger[innen]), Betreuungsbehörden und Betreuungsvereine. Betreute, die in der Ausschreibung unter den zu befragenden Personenkreisen immerhin an erster Stelle genannt werden, wurden bislang hingegen noch nicht befragt. Zwar ist in einer noch ausstehenden dritten Projektphase die Durchführung qualitativer Fallstudien in 28 Regionen geplant, „in deren Rahmen Betreuer, Betreute und nahestehende Personen interviewt werden“ (ISG 2017, S. 4) sollen, doch erscheint es zumindest bemerkenswert, dass diejenigen, die von der gesetzlichen Betreuung am unmittelbarsten betroffen sind und von daher vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen die Qualität von gesetzlicher Betreuung vermutlich am besten beurteilen können, in den ersten Projektphasen bisher überhaupt noch nicht berücksichtigt worden sind. Es bleibt abzuwarten, welcher Stellenwert der Perspektive der Betroffenen im Abschlussbericht letzt-endlich beigemessen wird. 

Ad 2: Mehrheitlich ersetzende statt unterstützende Entscheidungsfindung 
 
Besondere Aufmerksamkeit verdient ein Ergebnis der Studie, weil es eindrucksvoll die Kritik des UN-CRDP bestätigt. Bei der Befragung der Betreuerinnen und Betreuer wurde diesen u. a. die folgende Frage gestellt:  
 
„Sie kennen das Ziel, die Betreuten möglichst bei Ihrer eigenen Entscheidungsfindung zu unterstützen, anstatt ersetzende Entscheidungen zu treffen. Wir werden Ihnen jetzt einige Fragen zu diesem Themenkomplex stellen. Wie häufig können Sie im Arbeitsalltag mit Ihren Betreuten in einer Weise kommunizieren, die diese bei einer eigenen Entscheidungsfindung unterstützt?“ (ISG 2017, S. 76). 
 
Das grafisch aufgearbeitete Ergebnis der Antworten stellt sich wie folgt dar: 
     














 

        (ISG 2017, S. 76) 
 
Immerhin 1% der Befragten gaben an, die Betreuten selten oder nie an bei der Entscheidungsfindung zu unterstützen, selten 8% und manchmal 35%, das sind zusammen 44%. Oft, aber auch nicht immer, antworteten weitere 47%. 91% der befragten Betreuerinnen und Betreuer haben also angegeben, zumindest gelegentlich ersetzende statt unterstützende Entscheidungen zu treffen. Auch wenn diese Zahlen insofern zu relativieren sind, als 45% der befragten Be-treuerinnen und Betreuer angegeben haben, auf Wunsch der Betreuten so entschieden zu haben17, belegt dieses Ergebnis doch sehr deutlich die von dem UN-CRDP beklagte „Unvereinbarkeit des im deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) festgelegten und geregelten Instruments der rechtlichen Betreuung mit dem Übereinkommen“ (CRPD 2015, Nr. 25) nicht nur bezüglich der Rechtsnorm, sondern vor allem auch der Rechtspraxis. 

Dem Justizministerium als Auftraggeber der vorliegenden Studie ist vor diesem Hintergrund dringend anzuraten, den Empfehlung des UN-CRDP zu folgen und alle ersetzenden Entscheidungen im Rahmen gesetzlicher Betreuungen sowie damit einhergehende Maßnahmen wie etwa Freiheitsentziehungen zu verbieten (CRDP 2015, Nr. 26, Nr. 30 und Nr. 34b) und bis dahin zumindest die Betreuungsstatistik dahingehend zu modifizieren, dass ersichtlich wird, wie viele der gesetzlichen Betreuungen gegen den erklärten, weil nicht als frei, sondern nur als natürlich deklarierten Willen der Betroffenen und mithin von vornherein ersetzend und nicht unterstützend, eingerichtet wurden und werden. 

Literatur:
 
  • BdB 2015a; Bundesverband der Berufsbetreuer/innen: Erste Staatenberichtsprüfung der Vereinten Nationen zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Deutschland. Positionspapier des Bundesverbands der Berufsbetreuer/innen e.V. o. O. Juni 2015 
  • BdB 2015b; Bundesverband der Berufsbetreuer/innen: Betreuung braucht bessere Bedingungen. In: bdbaspekte, Heft 107, Oktober 2015, S. 7 
  • BDR 2015; Bund deutscher Rechtspfleger: Deutsches Betreuungsrecht und UN-Behindertenrechtskonvention – Brief an Bundesjustizminister Heiko Maas. In: Rechtspflegerblatt (RPfBl), 62. Jg. Heft 4, Oktober bis Dezember 2015 S. 92 
  • BGT 2014; Betreuungsgerichtstag: Unterstützen und Vertreten. Positionspapier des Betreuungsgerichtstages e. V., Bochum, 19. September 2014 
  • CRDP 2014; Committee on the Rights of Persons with Disabilities: General comment No. 1. Article 12: Equal recognition before the law. Genf 19. May 2014 
  • CRDP 2015; Committee on the Rights of Persons with Disabilities: Concluding observations on the initial report of Germany, Genf 17. April 2015 
  • Deinert 2015; Betreuungszahlen 2013 – 2014. Amtliche Erhebungen des Bundesamtes für Justiz, der Sozialministerien der Bundes-länder, der überörtlichen Betreuungsbehörden, der Bundesnotarkammer sowie des Statistischen Bundesamtes. Ausgewertet und grafisch aufbereitet von Horst Deinert (Stand 1.12.2015). URL:  http://www.bundesanzeiger-verlag.de/fileadmin/BT-Prax/downloads/Statistik_Betreungszahlen/Grafische_Darstellungen_der_Betreuungszahlen_2014.pdf  
  • Illich, u. a. 1979; Illich, Ivan u. a.: Entmündigung durch Experten. Zur Kritik der Dienstleistungsberufe. Reinbek: rororo 1979 
  • Marzahn1979; Marzahn, Christian: Wer soll eigentlich die Probleme lösen? Sechs Thesen zum Verhältnis von Sozialpädagogik und Selbsthilfe. In: Brockmann, Anna Dorothea; Liebel, Manfred & Rabatsch, Manfred (Hrsg.) 1979, S. 81 ff. 
  • Rohrmann 2004; Rohrmann, Eckhard: Wie frei muss ein freier Wille sein? Anmerkungen zur geplanten Einführung des § 1896 Abs. 1a BGB im Rahmen der Änderung des Betreuungsrechtes. In: Widersprüche, 24. Jg., Heft 92, Juni 2004, S. 83-95 

Fussnoten:
  1. Dazu veröffentlicht das Komitee erforderlichenfalls auch sog. General Comments mit Präzisierungen oder konkretisierenden Auslegungen einzelner Bestimmungen.  [zurück zum Text]
  2. Alle Dokumente zur UN-BRK und ihrer Umsetzung in Deutschland fanden sich unter:  
    http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/menschenrechtsinstrumente/vereinte-nationen/menschenrechtsabkommen/behindertenrechtskonvention-crpd  [zurück zum Text]
  3. Im englischen Original: substitute decision-making.  [zurück zum Text]
  4. Im englischen Original: supported decision-making.  [zurück zum Text]
  5. Für die Zahlen von 1992 bis 2002 vgl. Rohrmann 2004, S. 84, von 2003 bis 2014 vgl. Deinert 2015, S.2. [zurück zum Text] 
  6. Dabei ist grundsätzlich infrage zu stellen, ob und gegebenenfalls wie eine solche Messung mit einem validen Ergebnis überhaupt möglich ist.  [zurück zum Text]
  7. Gemeint sind wirklich alle Formen, ohne jede Ausnahme.  [zurück zum Text]
  8. Bei wie vielen, der gut 1.3 Mio. Menschen, die 2014 unter Betreuung standen, dies der Fall ist, ist der Statistik nicht zu entnehmen.  [zurück zum Text]
  9. Dies betraf 2014 lt. Statistik 135.162 Menschen nach dem BGB und darüber hinaus noch einmal 83.043 Menschen nach den PsychKG der Länder, insgesamt also 218.196 Menschen.  [zurück zum Text]
  10. Dies betraf 2014 lt. Statistik 60.438 Menschen, wobei hier von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist.  [zurück zum Text]
  11. Von Ausnahmen ist auch hier nicht die Rede.  [zurück zum Text]
  12. Und nur für diese.  [zurück zum Text]
  13. im Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht unter  
    http://ted.europa.eu/udl?uri=TED:NOTICE:227671-2015:TEXT:DE:HTML&src=0   [zurück zum Text]
  14. im Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht unter  
    http://ted.europa.eu/udl?uri=TED:NOTICE:227623-2015:TEXT:DE:HTML&src=0&act=n   [zurück zum Text]
  15. URL: http://ted.europa.eu/udl?uri=TED:NOTICE:227623-2015:TEXT:DE:HTML&src=0&act=n. (letzter Zugriff am 05. Juni 2017).  [zurück zum Text]
  16. Ebd.  [zurück zum Text]
  17. An dieser Stelle wäre es natürlich interessant, zu wissen, ob eine Befragung unter Betreuten zu dem gleichen Ergebnis gekommen wäre.  [zurück zum Text]
Autor:  
Prof. Dr. Eckhard Rohrmann  
Institut für Erziehungswissenschaft der Philipps-Universität Marburg  
Pilgrimstein 2, 35037 Marburg 
 
© Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. und Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener e.V.